Der Reisende wickelt sein Szalámi-Szendvics [Salami-Sandwich, Salamis St. Witch] unter den kritischen Blicken der Mitreisenden aus fettgetränktem Papier aus, klemmt das Sandwich zwischen die Zähne, noch immer im Zweifel, ob es in diesem schicken Intercity-Abteil sich schickt, profanen Fress-Gelüsten nachzugeben, glättet auf dem Schoß die ursprünglich aus einem Buch herausgerissene Seite und liest still [still!] den Text von einem gewissen Hans Magnus Enzensberger:
„Zwei Passagiere in einem Eisenbahnabteil. Wir wissen nichts über ihre Vorgeschichte, ihre Herkunft oder ihr Ziel. Sie haben sich häuslich eingerichtet, Tischchen, Kleiderhaken, Gepäckablagen in Beschlag genommen. Auf den freien Sitzen liegen Zeitungen, Mäntel, Handtaschen herum. Die Tür öffnet sich, und zwei neue Reisende treten ein. Ihre Ankunft wird nicht begrüßt.“
Hoppla! War nicht eben noch in dem Diskurs, dessen stummer Zeuge er zu sein hatte, von den kommunikativen Möglichkeiten des Eisenabteils die Rede gewesen? Die einzige Raumkapsel, in der sich noch eine literarische Öffentlichkeit konstituiert, im Unterschied zu Flugzeugkabinen und Personenkraftwagen? Das Kaffeehaus auf Rädern sozusagen? Ja, Pustekuchen! Der Reisende liest den Text auf dem Fettpapier weiter, so zerstreut und konzentriert, als wäre es eins dieser Hochglanzmagazine, die sonst immer in Zügen dieser Klasse herumliegen:
„Ein deutlicher Widerwille macht sich bemerkbar, die freien Plätze zu räumen, den Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch. Sie treten, den neu Hinzukommenden gegenüber, als Gruppe auf. Es ist ihr Territorium, das zur Disposition steht. Jeden, der neu zusteigt, betrachten sie als Eindringling. Ihr Selbstverständnis ist das von Eingeborenen, die den ganzen Raum für sich in Anspruch nehmen. Diese Auffassung lässt sich rational nicht begründen. Um so tiefer scheint sie verwurzelt zu sein.“
Ja, denkt unser Reisender: An dieser Modellsituation entwickelt Enzensberger in seinem Essay „Die Große Wanderung“ von 1992 den Vorschlag, „Gruppenegoismus und Fremdenhass [als] anthropologische Konstanten“ aufzufassen – eine Auffassung, die sich nach einem Jahrzehnt multikultureller Illusionen, in der westdeutschen „alternativen“ Szene gepflegt, angesichts brennender Migrantenwohnungen im nunmehr Gesamtdeutschland dem kritischen Leser dringend empfahl.
In der globalisierten Welt häufen sich die Gelegenheiten, in denen ich das Stigma des Fremden trage, dem der Einblick verwehrt oder die Einsicht abgesprochen wird, oder in denen ich umgekehrt den ironischen Blick des Fremden auf mein Eigenes aushalten muss. Mit der paradoxen Formel von der „Normalität des Fremden“ (Hans Hunfeld) sind die Notwendigkeiten des 21. Jahrhunderts auf einen Nenner gebracht.