Verschneidung der Diskurse
Die „Verschneidung“ ist ein Begriff aus der Klettertechnik: „Zwei Felswände, Platten oder Gesteinspakete, die – wie ein offenes Buch – in einer innenliegenden Kante aufeinandertreffen.“ (Wikipedia) Das „X“ in „XING“ ist ein Bild dafür. In der Informatik und insbesondere in der Geowissenschaft gibt es den Begriff ebenfalls (Boolsche Verschneidung). Damit versucht man etwa die Eignung bestimmter Lebensräume für eine spezifische Art von Lebewesen oder die Eignung eines Gebiets z. B. für eine Mülldeponie zu ermitteln. Meine Art, gekennzeichnet durch einen gewissen Jagdinstinkt, bewegt sich gerne in Verschneidungen. Auf meiner Deponie will ich ein paar biographische Leinwände ineinander schieben, um die Einwände gegen die Produktivität der Kategorie zu entkräften.
Beginnen wir, weil heute Halloween ist, mit den „Trick or Treats“. – „Süßes, sonst gibt’s Saures“ war nicht unser Spruch, wenn wir Kinder uns zu Karneval verkleideten und von Haus zu Haus zogen. Etwas bescheidener: „Bin ein kleiner König, gib mir nicht zu wenig, lass mich nicht zu lange steh’n, muss noch ein Häuschen weitergeh’n.“ Mir sind vor allem die Treppenhäuser gegenwärtig, knarrende Holzstufen und gedrechselte Geländer, Geruch nach Bohnerwachs, oder auch Steinstufen, mit ausgetretenen Kanten, an denen die Großmütter manchmal die Brotmesser wetzten. Die Toiletten lagen nicht in den Wohnungen, sondern im Zwischengeschoss. Männer im Unterhemd, Frauen im Küchenkittel, die Männer waren nicht die Väter. Es gab Süßigkeiten, und die mit Phantasie Begabten steckten uns ein paar Groschen zu: „Hier – kauft euch was.“ Später war ich Sternsinger, auch sowas Katholisches. Immer zu dritt – die Heiligen Drei Könige, im Hohen Dom zu Köln liegen ihre Gebeine in drei goldenen Sarkophagen. Wir also als Kaspar, Melchior und Balthasar – der eine trug den Stern aus Pappe mit Goldfolie, der andere das Weihrauchfass, und einer die Geldsammelbüchse. Mein Gesicht war mit einem angekokelten Korken tief geschwärzt, und mein Stern war etwas Besonderes: Fünf Zacken hatte er, wie der Drudenfuß, oder wie der Sowjetstern. Beginn der ersten Strophe: „Nun sehet den Stern, den wir bringen, ein Licht aus der Himmlischen Pracht. Nun höret das Lied, das wir singen, ein Lied von der Heiligen Nacht. Wir kamen von weither gegangen, durch Meere und Wüsten der Welt…“ Sechs Strophen. Wir drei Magier, die den Groschen und die Fünfmarkstücke aus den Geldbörsen hervorzaubern sollten – zum Wohle der katholischen Mission in Südamerika.
Das waren die Fünfziger und frühen Sechziger Jahre. Wieder in die Treppenflure hinein, an ausgelagerten Gummibäumen und Sansevierien auf dem Treppenabsatz vorbei, aber auch schon in Eigenheime mit schmiedeeisernen Haustüren, mit holzvertäfelter Diele, von dort der Blick ins Wohnzimmer, oder hinein in modernere Miethäuser von Siedlungsgesellschaften, errichtet für die Flüchtlinge aus dem Osten, mit Treppen aus Speckstein und Wandsockel in Ölfarbe gestrichen – leicht sauber zu halten, und hinter der Wohnungstür eine kleine Garderobe, dahinter die Küche. Lied und Stern zogen eine Leuchtspur durch die Nacht, einen Lichtfaden, auf den die in der zivilisatorischen Katastrophe des Weltkriegs zersplitterten Lebensentwürfe und die kleinbürgerlichen Parallelwelten sich hätten aufreihen können wie auf einer Perlenschnur. Hätten.
Aber die Zerstreuung hatte Einzug in die Wohnungen gehalten. In den Wohnzimmern standen die Fernsehtruhen, kombiniert mit Zehnplattenwechsler und einem Radio mit dem magischen Auge, in den Küchen drängten sich die Schwarzweißfernseher mit nach hinten ausbauchender Braunscher Röhre zwischen die Möbel. Und was lief, es gab ja nur ein Programm, das heute „Das Erste“ heißt? Der Film „Don Camillo und Peppone“ (oder war es „Die große Schlacht des Don Camillo“? Oder „Hochwürden Camillo“? Oder gar „Genosse Camillo“?) Die Geschichte von den ewigen Auseinandersetzungen zwischen dem katholischen Pfarrer Don Camillo und dem kommunistischen Bürgermeister Peppone, die – geeint durch ihre gemeinsame Partisanenvergangenheit – in ewiger Haßliebe päpstlichen Gehorsam gegen Moskautreue und umgekehrt ins Feld führen und zu bauernschlauen Lösungen kommunaler Probleme gelangen – und das im Sehnsuchtsland des deutschen Kleinbürgers, der sich gerade mit Volkswagen und Mercedes zu motorisieren gedenkt und vom Urlaub auf den Campingplätzen am Gardasee träumt. Das pfiffige Pferdegesicht Fernandels, der den Don Camillo verkörperte. Der Schnauzbart und die traurigen Augen Gino Cervis, der den Bürgermeister darstellte. Der Dorfpfarrer im Triumph nach einem Sieg über den Bürgermeister, ein langer Dialog Don Camillos mit dem Gekreuzigten über dem Hauptaltar (Stimme aus dem Off), Jesus, der ihm Demut und Versöhnung mit Peppone anrät – die Szene nach dem Friedensschluss, wenn der Priester mit wehender Soutane auf der Moto Guzzi des Bürgermeisters vor seiner Kirche die Runden dreht…
Der Film lief in jeder Wohnung, die wir Sternsinger aufsuchten, wir störten ganz offensichtlich: „Bitte nur eine Strophe!“ „Für die Mission?“ – „Ah ja, und was bekommt ihr davon?“ – „Keinen Pfennig? Na, dann nehmt doch noch diese Schokolade mit.“ Bin ein kleiner König. Ich schielte auf den Fernseher und rekonstruierte den Fortgang der Filmhandlung, während wir die erste Strophe absangen: „Nun sehet den Stern, den wir bringen…“ Das neue Medium verschmolz die nach der selbstverschuldeten Katastrophe fragmentierten Einzelnen mit ihren verunglückten Biographien zu einer prekären Gemeinschaft. Mediale Parallelwelten als Flucht-Räume. Aber nicht dass ich moralisch empört gewesen wäre. Ich spürte das Ende des christlich-moralischen Deutungs- und Handlungsraums – trotz dieser sehr warmen Stimme aus dem Off. Mich fasziniert heute noch die Verschneidung der Diskurse – das traditionelle Sternsingerlied in der Wiederholung immer derselben ersten Strophe mutiert zu moderner serieller Wortkunst, steht sperrig und quer gegen den Fortgang der Dialoge und der Filmhandlung, als wäre es ein Heilmittel gegen die falsche Konstruktion von kleinbürgerlichen Identitäten in der auf Pluralismus und Konsens gepolten rheinischen Republik der Fünfziger und frühen Sechziger Jahre.
Im letzten November (2013) zeigte das Japanische Kulturinstitut in Köln eine Reihe mit frühen Filmen von Nagisa Ōshima. Eine Nachmittagsvorstellung. Unter trübem Himmel, durch nasses und dennoch raschelndes Laub am Aachener Weiher, schlenderten wir Hand in Hand zu dem klaren und nüchternen Bau, der neben dem nüchternen und klaren Bau des Ostasiatischen Museums liegt. Im Foyer Arbeiten junger – in Deutschland lebender – japanischer Künstler, die auf die Katastrophe von Fukushima reagieren. Wegen der teils expliziten Darstellung sexueller Inhalte Eintritt erst ab 18 Jahren! Aber es handelte sich ja gar nicht um den als Autoren-Porn verschrienen Film Ōshimas „Im Reich der Sinne“ (1976). Sondern um einen „kleinen“, größtenteils mit Laiendarstellern improvisierten Farbfilm von 1967, im japanischen Original mit englischen Untertiteln. „Sing a Song of Sex“. Der japanische Originaltitel „Nihon shunka-kô“ wird auf Wikipedia wie die Überschrift eines Traktats übersetzt: „Über japanische Lieder der Unzucht.“
Auf die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in Japan reagiert der Film aus der Perspektive von vier männlichen Studenten. Oder Internatsschülern – oder Militärkadetten, denn sie tragen Uniform. Hiroi, Maruyama, Nakamura und Ueda lungern in der Eingangshalle der Universität herum. Statt zu studieren oder sich zu politisch engagieren, geben sie vor, nichts anderes zu wollen, als in irgendeinem Bett zu landen. Aus Langeweile steckt man sich schon mal fünf Zigaretten auf einmal in den Mund und pafft sie wie die Dampfmaschine aus Fritz Langs „Metropolis“. Oder man schlendert zu dem Tisch hinüber, wo politisch aktive Studenten Unterschriften gegen den Vietnamkrieg sammeln, und versucht den Namen einer attraktiven Studentin zu ermitteln. Eine lange Einstellung zeigt die vier, wie sie den tief verschneiten Sportplatz überqueren – nur erkenntlich an zwei Handballtoren, die wie Landmarken im Nichts stehen. Aus Langeweile schließen sie sich einer Demonstration an – der Zuschauer möchte gerne wissen, warum auf den Bannern die rote Sonne Nippons durch eine schwarze Scheibe auf weißem Grund ersetzt ist. Sie brüllen die Parolen mit, versuchen die Stimmung anzuheizen, bis sie erschreckt bemerken, dass ihnen ihr Lehrer entgegenkommt. Er wird begleitet von einer Frau, seiner Frau.
Die Gruppe der Vier ändert die Marschrichtung. Die Jungen folgen dem Paar. Das Paar trennt sich in einer Metrostation, die Verfolgergruppe auch. Der Wortführer – das Alphatier – folgt der Frau. Lange Wege durch Fußgängerpassagen und über Zebrastreifen, immer das Staccato der Schritte, das dunklere Klopfen der Stiefel und das helle Geklapper der Pumps, ja es sind die Sechziger Jahre auch in Japan, die Frau trägt einen hellen kurzen Mantel und eine Turmfrisur. Hinein in ein Wohnhaus, am Portier vorbei, in denselben Aufzug. Kein Wort. Verfolgen bis zur Wohnungstür. Da dreht sie sich um: „Was wollen Sie?“ – „Sie sind die Frau meines Lehrers.“ – „Ja, und?“ – „Darf ich zu Ihnen in die Wohnung kommen?“ – „Wozu?“ – „…“ – „Na, kommen Sie.“ – „Danke.“ – „Was zu trinken?“ – „Ja, danke, gern.“ – „Und jetzt?“ – „…“ – „Bitte, gehen Sie jetzt.“ – „Wir verehren Ihren Mann, unseren Lehrer.“ – „Warum sagen Sie ihm das nicht selbst?“ – „Wo ist er denn hingegangen?“ – „Er trifft sich mit seinen Schülerinnen, sie feiern ihren Abschluss.“ Die Frau sagt ihm die Adresse des Teehauses.
Szenenwechsel. Der Lehrer mit seinen Schülerinnen. Sie himmeln ihn an. Sie haben ihn immer für seinen Unterricht im Fach Philosophie bewundert. Sie traktieren ihn mit Sake. Der Lehrer wird zunehmend betrunken. Die drei Jungs sind auch da, sie sind dem Lehrer gefolgt, und er hat sie eingeladen. Leeres Gerede, anzügliche Bemerkungen in Richtung der Schülerinnen, später stößt auch der Ueda, der Wortführer, dazu. Man wird in dem Etablissement übernachten. Der Lehrer hat ein Einzelzimmer, die Jungen und die Mädchen getrennte Mehrbettzimmer. Der Lehrer, inzwischen total betrunken, beginnt, ein unzüchtiges altes Volkslied zu singen. In jeder Strophe wird eine weitere Frau flach gelegt, das Lied ist endlos. Eine vielstrophige Ode auf die Potenz des Mannes. Die Jungen fallen begeistert ein, die Mädchen amüsieren sich.
Von nun an grundiert das Lied alle Szenen. Der Lehrer torkelt in sein Zimmer. Er singt’s. Die Jungen führen in ihrem Mehrbettraum Gladiatorenkämpfe auf. Sie singen’s. Ueda geht hinaus auf den langen Korridor. Er singt’s. Er klopft an die Tür des Mädchenzimmers und ruft etwas von seinem sexuellen Notstand hinein. Von drinnen Gelächter und das Lied. Auch die Mädchen singen es. Ueda steigt die Treppe zum Stockwerk hinauf, wo das Zimmer des Lehrers ist. Er summt das Lied. Inzwischen haben wir es so oft gehört, dass wir einen Ohrwurm haben. Ueda klopft an der Zimmertür, keine Antwort vom Lehrer. Eine kurze Intonation des Liedanfangs, wie ein Ruf, dem kein Echo folgt. Ueda drückt die Klinke. Die Tür ist unverschlossen. Drinnen findet er den Lehrer, vollständig angezogen, mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. Der Lehrer ringt nach Luft. Ein Erstickungsanfall. Offensichtlich stimmt etwas mit dem Gasofen nicht. Eine Monoxyd-Vergiftung? Ueda greift in den Haarschopf des Lehrers und zieht den Kopf empor, sodass er ihm ins Gesicht sehen kann. Ins Gesicht des Sterbenden singt er das Lied. Er lässt den Kopf des Lehrers auf die Schreibtischfläche sinken und verlässt singend den Raum. Er schließt sorgfältig die Tür. Auf dem Rückweg zum Jungenschlafraum schlägt er mit der Faust an die Tür des Mädchenzimmers. (Diese Szene auf YouTube)
Am Morgen Verstörung bei den Mädchen und Jungen. Vernehmungen durch die Polizei. Niemand hat etwas gesehen, alle waren müde und sind schnell eingeschlafen. Man muss es seiner Frau sagen. Ueda übernimmt das. Er wird ihr das Lied vorsingen, das ihr Mann an seinem letzten Abend seinen Schülern beigebracht hat. Kriegt er sie damit herum? Wir sehen Ueda mit ihr wieder auf einem langen Gang – man sieht die beiden gehen, in einem amerikanischen Kamera-Ausschnitt, d. h. die Körper vom Kopf bis Hüfthöhe, es muss irgendein Steg oder Weg sein, der in halber Höhe an Architekturformen des modernen Tokyo vorbeiführt, man hört ein Gespräch, aber man hört nicht hin, man hört nur die Stiefelabsätze klopfen und vernimmt das Geklapper der Stöckelschuhe. Das Gespräch interessiert schon nicht mehr, als Zuschauer ist man nur auf das bewusste Lied gepolt. Nur das will man hören. Das Abbrechen der Szene – hier wie auch sonst in diesem Film – ist symptomatisch: die Zurücknahme als Handlungsmuster. Ein obszönes Lied singend, nähert sich der Mann der Frau – wenn sie fragt „Und nun?“, zieht er sich in sein Schneckenhaus zurück. Viel Bewegung ohne Ziel. Freiheit ohne Freude. Der Phallus: eine Schnecke.
Am Ende landen alle bei einem Festival des politischen Liedes. Die attraktive Studentin vom Anfang des Films hat zusammen mit ihren Genossen das Festival organisiert – um den Kampf des vietnamesischen Volkes gegen die US-imperialistische Aggression zu unterstützen. Studentendelegationen aus vielen Ländern sind dort und singen Protestlieder in ihren Sprachen. Ueda freut sich, die attraktive Studentin wieder zu treffen. Das kann nicht gestern gewesen sein. Gestern lag hoher Schnee. Dieses Festival findet spätabends unter Lampions im Freien statt – unter Bäumen am See. Ueda ergreift das Mikrophon, seine Kumpel umringen ihn – in bester Karaoke-Manier intoniert er das revolutionäre Lied der finnischen Genossen und lässt es allmählich in das kleine unzüchtige Volkslied übergehen. Und alle singen mit.
Wieder die Verschneidung der Diskurse: Der „Song of Sex“ in der Wiederholung immer derselben Strophenfolge mutiert zu moderner serieller Wortkunst, steht sperrig und quer gegen den Fortgang der Dialoge und der Filmhandlung, als wäre er ein Heilmittel gegen die falsche Konstruktion revolutionärer oder libertinärer Identitäten in der auf Konsens und Restauration gepolten japanischen Gesellschaft der Fünfziger und Sechziger Jahre.
Danke! Freut mich das jetzt auch gelesen zu haben.
Péter