Wieder gelesen: Albert Camus „Die Pest“ (3)

Nehmen wir einen der Bagatellisierer. Der Hauswart Michel wird von einem Bewohner des Hauses, dem Arzt Rieux, am 16. April mit einer toten Ratte im Flur konfrontiert:

Nager und Abgenagtes

„Seine Haltung war übrigens eindeutig: es gab keine Ratten im Haus […] sie mussten hereingebracht worden sein. […] Am nächsten Tag […] hielt der Hauswart den Arzt im Vorübergehen an und beklagte sich, Lausbuben hätten drei tote Ratten mitten in den Gang gelegt.” [8-9] Gerade an dem alten Hauswart wird der Verlauf der Erkrankung und das Sterben geschildert. Moralisch gesehen, wäre der Tod die gerechte Strafe für das Leugnen. Aber es geht nicht um Moral. Die Pest rafft Gerechte und Ungerechte dahin. Aus Camus‘ Tagebuch Februar 1942: „Die befreiende Pest. Eine glückliche Stadt. Man lebt nach allerlei Systemen. Die Pest: bringt alle Systeme auf einen Nenner. Aber die Menschen sterben trotzdem. Doppelt sinnlos.“ [179 f.*]

Es geht nicht um Moral, vielmehr um Ordnungen des Wissens. Michels Körper weiß mehr, als sein Intellekt wahrhaben will. Die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks Haltung: „Den Hauswart fand der Arzt neben der Haustür an die Maurer gelehnt. Sein sonst hochrotes Gesicht schien eingefallen. […] Er schien niedergeschlagen und sorgenvoll. Unwillkürlich rieb er sich den Hals. Rieux fragte ihn, wie es ihm gehe. Der Hauswart konn­te nicht sagen, es gehe ausgesprochen schlecht. Nur fühlte er sich nicht wohl. Seiner Meinung kam es von seiner Gemütsverfassung. Diese Rattengeschichte hatte ihn stark mitgenommen, sobald die Tiere verschwunden seien, werde es ihm wieder viel besser gehen.“ [11]

*Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951. Neuausgabe. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt

Wieder gelesen: Albert Camus „Die Pest” (2)

Die Bloggerin Xeniana in Kiel macht sich Sorgen um Plagiate. „Zurück zu Camus. Das Plagiat werde ich kennzeichnen in kursiv. Ich bin kein Fall für Literaturwissenschaftler. Ich bevorzuge auf Grund meines Bildungsniveaus den Bitterfelder Weg. Wem das nicht genügt, der darf gern woanders schauen. In Ordnung Leo Läufer?“ Woher weiß sie etwas über die Diskussion zwischen Leo und Xing? Ich könnte sie fragen. Aber über die Kommentarfunktion auf WordPress kommen wir wegen irgendwelcher Systemeinstellungen nicht zusammen. Einstweilen muss ich den Weg über Zitate und Verlinkungen gehen: https://xeniana.wpcomstaging.com/2020/04/06/ich-lese-die-pest-von-camus-tag-1/

Statt mit Plagiaten hatte ich zunächst ein Problem mit der Umkehrung. Ich wollte es viel schlimmer finden, dass die sogenannte Realität Anleihen bei der Fiktion macht, also die Corona-Krise aus dem Roman „Die Pest” von Camus plagiiert. Hier wie dort schien es das gleiche Personal zu geben, zum Beispiel die simplen Igno­ranten, die offiziellen Leugner, die Attentäter, die Kriegsgewinnler. Und die, die sich auf der sicheren Seite glauben. Aus diesem identifizierenden Lesen hilft nur heraus, dass man anerkennt, dass es sich nicht um eine wirkliche „Pest“ handelt, trotz Ratten, Eiterbeulen und hohem Fieber, sondern um eine Konstruktion. Deshalb lohnt sich ein Blick in die Werkstatt des Schriftstellers: die Tagebücher.

Wieder gelesen : Albert Camus „Die Pest“

„Eine bewährte Art, eine Stadt kennenzulernen, besteht darin, herauszufinden, wie ihre Bewohner arbeiten, wie sie lieben und wie sie sterben. In unserem Städtchen vermengt sich dies alles und geschieht mit der gleichen Maßlosigkeit , doch ohne innere Anteilnahme.“

Albert Camus, Die Pest. Einzige vom Verfasser autorisierte Übertragung von Guido C. Meister. Reinbek bei Hamburg 1950: Rowohlt (rororo 15), S. 5

Dem Roman ist ein Zitat von Daniel Defoe vorangestellt. Darin wird das Verhältnis von Fiktion und Realität beleuchtet. Camus stellt damit die philosophische Frage, ob überhaupt „etwas“ die grundsätzlich absurde Existenz des Menschen transzendieren kann. Wie Robinson sich seine Insel immer komfortabler einrichtet und von nichts anderem träumt, als sie zu verlassen, so sehnen die Einwohner von Oran, der wegen der Pest abgeriegelten Hafenstadt am Mittelmeer, das Ende der Quarantäne herbei, um in ihre eingefahrenen Gewohnheiten des Arbeitens, Liebens und Sterbens zurückzukehren. Das ist jetzt erst einmal eine Deutungshypothese. Vielleicht werde ich durch die erneute Lektüre des Romans ja eines Anderen belehrt. Oder die Zeit nach Corona bewahrheitet die Prophezeiungen, dass von jetzt an alles anders wird. Das Defoe-Zitat lautet:

Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt.