Napoleons Geschichtsschreiber Thiers sagt, indem er seinen Helden zu rechtfertigen sucht, daß Napoleon gegen seinen Willen zu den Mauern Moskaus hingelockt worden sei […]. Er hat ebenso recht wie alle jene Historiker, die geschichtliche Ereignisse aus dem Willen eines einzelnen Menschen zu erklären versuchen, ebenso recht wie jene russischen Geschichtsschreiber, die da behaupten, Napoleon sei durch die Kunst russischer Feldherren nach Moskau gelockt worden. Hier spielen außer dem Gesetz des nachträglichen Hineindeutens auch noch die Wechselbeziehungen mit hinein, die alles noch mehr verwirren. Ein guter Schachspieler ist, wenn er eine Partie verloren hat, fest überzeugt, daß dieser Verlust durch einen Fehler seinerseits verursacht ist, und sucht diesen Fehler am Anfang seines Spiels. Aber er denkt nicht daran, daß im Verlauf des ganzen Spiels bei jedem Zug solche Fehler gemacht worden sind, und daß auch nicht ein einziger Zug ganz fehlerfrei gewesen ist. Und gerade der Fehler, auf den er seine Aufmerksamkeit lenkt, fällt ihm nur deshalb auf, weil der Gegner Vorteil daraus gezogen hat. Um wieviel verwickelter aber ist nun das Spiel eines Krieges, das unter gewissen zeitlichen Bedingungen abrollt und wo nicht ein einziger Wille leblose Marionetten lenkt, sondern alles, was sich ereignet, dem Zusammenfluß zahlreicher, mannigfaltiger Willkürlichkeiten entspricht.
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Zehnter Teil, Kapitel 7. München (Winkler) 1956, Seiten 972-973.
Kurz vor dem Einschlafen wieder Tolstoi. Der Beginn des Neunten Teils von „Krieg und Frieden“. Am 12. Juni 1812 wurde die rote Linie überschritten, die zweite Grande Armée unter Napoleon drang nach Russland ein. Leo Tolstoi hebt die Unmöglichkeit hervor, die Gründe für das Handeln der Akteure zu erkennen, egal ob auf der Makro- oder der Mikro-Ebene. Weil es Millionen und Abermillionen von Gründen gebe. Das epische Panorama – in der deutschen Übersetzung 1.598 Seiten – bringt der Autor hier auf die Kurzformel vom Fatalismus in der Geschichte.
Für uns Nachfahren, die wir keine Historiker sind, die wir uns durch den Forschertrieb nicht hinreißen lassen und deshalb die Ereignisse mit ungetrübten, gesunden Sinnen überschauen, stellen sich die Gründe für diesen Krieg in ungezählten Mengen dar. […] Solche Gründe, wie die Weigerung Napoleons, seine Truppen hinter die Weichsel zurückzuziehen oder das Herzogtum Oldenburg wieder herauszugeben, erscheinen uns wie der Wunsch oder die Weigerung des ersten besten französischen Korporals, zum zweiten Mal wieder in den Militärdienst einzutreten, denn wenn er nicht den Wunsch gehabt hätte, wieder einzutreten, und ein zweiter, ein dritter, ein tausendster Korporal oder Soldat seinem Beispiel gefolgt wäre, so hätte Napoleons Armee um soviel weniger Mannschaften gehabt, und der Krieg wäre unmöglich gewesen.
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Neunter Teil, Kapitel 1. München (Winkler) 1956, Seiten 825-826.
Dann vor dem Aufwachen ein Traum. Dunkel, vom Hafen her erhellt. Eine ältere (alte?) Frau steigt mit kräftigen Schritten die Treppe zur Stadt hinan. Sie schleppt zwei große, prall gefüllte Tragetaschen, obwohl es dunkel ist, meine ich zu erkennen, dass diese aus kariertem Kunststoff bestehen. Die Schritte der Frau auf der Treppe hallen durch das Dunkel, sie trägt Schuhe mit harten (breiten, hohen) Absätzen. Oder sind es Stiefel? Früher hätte ich gesagt: „Mütterchen Russland“. Sie geht die Treppe, she walks her line. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, wird ein Kinderwagen die Stufen herunter ticken. Die steinernen Löwen werden sich erheben und ein Gebrüll anstimmen. Von oben wird die zaristische Soldateska im Kordon, schießend und die Gewehre immer wieder ladend, in die Menge schießend, die Treppe säubern.
Der Tiger springt ins Vergangene, der Film läuft rückwärts. Den Engel der Geschichte weht es von uns weg. Er entfernt sich, bleibt uns aber zugewandt. „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ (Walter Benjamin)
Die Schachtel mit den Filterzigaretten der Marke „Kosmos“ stammt aus dem Nachlass meines Vaters. Er, von der Familie „Jupp“ genannt, wäre gestern einhundert Jahre alt geworden. Jahrgang 1922. Der im 2. Weltkrieg am stärksten dezimiert wurde (jedenfalls was die Angehörigen der Deutschen Wehrmacht angeht). 1940, mit 18 Jahren, meldete „Jupp“ sich freiwillig zur Kriegsmarine. Das hatte ihm sein Vater geraten, also mein Großvater, der im Ersten Weltkrieg ebenfalls bei der Kriegsmarine gewesen war. „Stolz weht die Flagge Schwarz-Weiß-Rot“.
Soll er wirklich mein Mann werden, ausgerechnet dieser fremde, schöne, gute, junge Mensch? Ja gut ist er, dachte Prinzessin Marja, und eine Angst, die sie niemals empfunden hatte, kam über sie . Sie fürchtete sich, sich umzuschauen: ihr war, als stünde dort jemand hinter dem Schirm in der dunklen Ecke. Und dieser Jemand war der Teufel oder er – der junge Mann mit der weißen Stirn, den schwarzen Augenbrauen und dem roten Mund.
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Dritter Teil, Kapitel 5. München (Winkler) 1956, Seite 301.
Die Familie war katholisch, der Großvater ein Anhänger der Zentrumspartei. Er war Schreiner von Beruf, in der Wirtschaftskrise arbeitslos, aber nicht anfällig für Hitlers Propaganda. Obwohl der Volksschullehrer den Jungen für das Gymnasium empfohlen hatte, bestimmte der Erziehungsberechtigte ihn für eine Lehre als Maschinenschlosser. Dort, im Reichsbahnausbesserungswerk Schwerte, galt mein Vater als der „kleinste Stift“. Als Lehrling stand er sonntags in dem Zwiespalt, zum Dienst bei der Hitlerjugend oder in die katholische Messe zu gehen, wo er als Messdiener am Altar assistierte. Nachdem er sich mehrmals für den Gottesdienst entschieden hatte, wurde er von den Hitlerjugendführern vor versammelter Mannschaft gemaßregelt: Ihm wurden die Schulterstücke vom Uniformhemd gerissen. So konnte er sich ausrechnen, dass die Nazis im Heimatort ihn auf dem Kieker hatten. Mit der freiwilligen Meldung zur Marine konnte „Jupp“ sich deren Einfluss entziehen.
Er kam zur Marineschule in Kiel-Laboe. Angeblich war er sehr sportlich (Mittelstreckenläufer, Salto über den Tisch). Aber schwimmen konnte er nicht. Den Widerspruch erklärt er weg: „Wir Nichtschwimmer waren in der Marine beliebt. Weil wir immer Schwimmwesten getragen haben.“ Mein Vater ist mit seinen Söhnen niemals zum Schwimmen gegangen, weder in das Wellenbad in der Ruhr noch in das Freibad mit dem verrückten Namen „Schöne Flöte“. Von Beruf Maschinenschlossergeselle, war er für eine Mechanikerausbildung vorgesehen. Sein Rang war Marinegefreiter. Die Aufgabe, die er schließlich an Bord übernahm, war die des Sperrmixers. Den Begriff habe ich nirgendwo gefunden. Ich erkläre ihn mir aus der dem Zusammenhang mit den Minensperren. Die wurden ja gelegt, um feindlichen Schiffen die Durchfahrt durch eine Meerenge oder die Annäherung an wichtige Hafeneinfahrten zu versperren. Es gab nur einen „Sperrmixer“ auf dem Minenleger, einem Prahm. Der Prahm hatte kaum Stauraum unter Deck, sondern transportierte die Last offen an Deck. Die Minen standen in zwei Reihen auf je einer Schiene back- und steuerbords, auf denen sie nach achtern, zum Heck, geschoben wurden. Also ein ziemlich schwerfälliges Schiff ohne großen Tiefgang. Seeschlachten konnte man damit nicht gewinnen. Zur Selbstverteidigung hatten sie ein kleines Flugabwehrgeschütz, vielleicht noch ein Maschinengewehr. Mein Vater hat erzählt, dass er einen Luftangriff verschlafen hat. Obwohl er direkt hinter dem feuernden Geschütz lag, sei er nicht wachgeworden. Einmal hatten sie einen Frachter gekapert. Kisten voller Hühnereier. Tagelang Rührei, danach Hard boiled eggs, dann Sole-Eier. Eierschlachten, die Mannschaft bewarf sich damit. Das sind so Anekdoten, die man glauben kann oder auch nicht. Außerdem hatten sie Wasserbomben gegen feindliche U-Boote.
„Der Sperrmixer“. Foto aus dem Nachlass meines Vaters. Als Kinder dachten wir, er selbst wäre darauf abgebildet. Wahrscheinlich ein Kriegspresse-Foto. Nr. 26 aus einer Serie.
Der Sperrmixer machte die Minen scharf, bevor sie ins Meer geworfen wurden. Dazu musste er vorsichtig die Zünder einschrauben und die Sensoren spannen, so stelle ich es mir vor, die auf die Berührung mit einer Schiffswand die Explosion der Mine auslösten. Ein ziemlich gefährlicher Job, der hohe Präzision erforderte, damit die Mine wirklich auch explodieren würde. Aber nicht vor der Zeit, nicht an Deck. Nach dem Scharfmachen wurde die Mine ans Heck geschoben und von dort aus ins Wasser geworfen. Der Befehl lautete „Mine, Wurf!“ Die Mine hatte eine schwere Basis, die sich auf den Meeresgrund legte. Von der Basis aus löste sich der an einem längeren oder kürzeren Drahtseil befestigte Minenkopf mit dem Explosionsstoff und den Zündern. Wegen des Auftriebs konnten die Minen in verschiedenen Höhen unter Wasser schweben. Keine Fachexpertise, meine Phantasien.
Das Einsatzgebiet war der Finnische Meerbusen, also der östliche Arm der Ostsee („Baltic Sea“) Richtung Leningrad (heute Sankt Petersburg). Die Minensperren sollten sowjetische Kriegsschiffe und U-Boote daran hindern, aus dem Finnischen Meerbusen auszulaufen. Ob die Blockade auch der Belagerung von Leningrad durch die Deutsche Wehrmacht dienen sollte, kann ich nicht sagen. Die Blockade Leningrads ist eine der längsten Belagerungen in der Geschichte des 2. Weltkriegs. Hungersnot, eisige Winter, die meisten Bäume in den Parkanlagen gefällt, Schostakowitsch, ein Symphonie-Orchester mit klammen Fingern. Das Schiff legte zur Versorgung mit Treibstoff, Verpflegung und zur Bestückung mit neuen Minen in vielen Ostseehäfen an. Ich kann mich daran erinnern, dass „Jupp“ die Städte Danzig (heute Gdansk in Polen), Libau (Liepaja in Lettland) und Reval erwähnte (Tallin, die Hauptstadt Estlands), und natürlich Turku und Helsinki. Finnland unter Marschall Mannerheim war mit Hitlerdeutschland verbündet und führte in Karelien einen Landkrieg gegen die Sowjetunion.
Der Fürst lachte wieder in seiner kalten Art. »Bonaparte ist ein Glücksmensch«, sagte er. »Er hat prächtige Soldaten und ist zuerst über die Deutschen hergefallen. Nur ein ganz schlapper Kerl kann die Deutschen nicht besiegen. Seit die Welt steht, sind die Deutschen von ihren Feinden stets besiegt worden. Sie haben nie ihre Gegner geschlagen. Das haben sie nur untereinander fertig gebracht. Bei ihnen hat er sich seine Lorbeeren geholt.«
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Erster Teil, Kapitel 27. München (Winkler) 1956, Seite 131.
Mein Vater war das, was man einen „guten Soldaten“ nannte. Er wurde mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und mit der finnischen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Auf diesen Orden war er stolz, weil den nicht viele bekommen hatten. Die Urkunde mit der Unterschrift Marschall Mannerheims hing in dem Zimmer meines Vaters, eingerahmt an der Wand, zusammen mit dem Orden. Noch früher hing dort eine Kopie eines Seestücks „Der letzte Mann“ und ein Finnendolch. Ich habe Urkunde und Orden im vorigen Jahr dem ungarischen Historiker Krisztián Ungváry geschenkt, der ein Standardwerk über die Schlacht von Budapest geschrieben hat („Budapest ostroma“ 7. Auflage 2016; seit 1998 vier Ausgaben in deutscher Sprache, je zwei in den USA und UK erschienen, eine illegale russische).
Aber so ein guter Soldat war mein Vater auch wieder nicht. Von einem Nachtausgang in einer finnischen Hafenstadt, ich glaube Turku, kehrte er zu spät auf das Schiff zurück. Der „Alte“, also der Kommandeur der Flotille, auch „Kaleu“ (Kapitänleutnant) genannt, stellte ihn zur Rede. Wegen des Disziplinarvergehens nahm er das Kommando zurück, mit dem er meinen Vater eigentlich hatte belohnen wollen. Er hätte zur Schnellbootflotte im Schwarzen Meer versetzt werden sollen, wegen des schönen Wetters und der sagenhaft schönen Halbinsel Krim ein Traumziel. Die Strafe war ein Glück für meinen Vater. Die gesamte Schnellbootflotte im Schwarzen Meer ist vom Gegner, sowjetischen Schiffen, U-Booten und vor allem Flugzeugen, vernichtet worden. Kaum jemand von den deutschen Besatzungen hat das überlebt. Ohne „Jupps“ Verstoß gegen die Regeln wären mein Bruder und ich nicht auf der Welt.
In den letzten Kriegstagen ist mein Vater an der Ostseeküste desertiert. Noch ein Regelverstoß, der vielleicht mir und meinem Bruder ans Licht der Welt verholfen hat. Er hat sich zu Fuß von Mecklenburg-Vorpommern bis in den Heimatort am Rand des Ruhrgebiets durchgeschlagen. Eines Morgens hat er sich an einem Brunnen gewaschen und dabei seine Erkennungsmarke an einem Zaun hängen gelassen. Er wurde von einer Feldpolizeistreife aufgegriffen und konnte seine Erkennungsmarke nicht zeigen, hatte aber sein Soldbuch dabei. Er wurde in eine Kaserne gebracht, wo letzte Aufgebote des sogenannten „Volkssturms“ (alte Männer und 14-, 15jährige Jungen) zusammengestellt wurden. Der befehlshabende Offizier ließ meinen Vater einsperren, aber ein Feldwebel verhalf ihm zur Flucht, indem er ein Fenster auf der Toilette öffnete. („Das ist ein ganz scharfer Hund, der will dir nichts Gutes, hau ab.“). Auf dem weiteren Weg musste mein Vater die Elbe und die Weser überqueren. An der Weser kontrollierten alliierte Truppen, genauer englische Soldaten, alle Boote, die über den Fluss setzten. „Jupp“ wollte nicht in Kriegsgefangenschaft. Er nahm zwei Melkeimer in die Hand und setze mit anderen Melkern und Melkerinnen zu den Kühen am anderen Ufer über. Ende Mai 1945 war er zurück in der Heimat.
„Jupp“ hatte zeitlebens Sympathien für russische Komponisten und russische Dichter. Kopien von Ikonen, Bernsteinschmuck für meine Mutter. Die Tolstoi-Ausgabe stammt aus seinem Nachlass, aber auch ein apokryphes Werk von Karl Marx über die russische Geheimdiplomatie, von Dostojewskij nur „Die Dämonen“, Quellenbände über die Oktoberrevolution, Solschenitzyns „Archipel Gulag“ natürlich. Im Jahre 1976 erfüllte er sich einen großen Wunsch. Mit unserer Mutter und seinen beiden Söhnen reiste er nach Moskau und Leningrad. Unbekümmert fotografierte er nicht nur Bahnhöfe und den Panzerkreuzer „Aurora“, sondern auch moderne sowjetische Kriegsschiffe auf der Newa. Gorbatschow war dann sein Held.
Pierre nach seinem Auftritt im Hause Anna Pawlownas, bei dem er Bonaparte fast schon wie Heinrich Heine als Hüter der Revolution und berittenen Weltgeist verteidigt hatte, nun im Gespräch unter vier Augen. Seinem Freund, Fürst Andrej, antwortet er auf die Frage, ob er sich schon bei der Gardekavallerie gemeldet habe: „Wir haben jetzt Krieg gegen Napoleon. Wenn das ein Kampf für die Freiheit wäre, dann könnte ich es verstehen und träte als erster in den Kriegsdienst. Aber England und Österreich gegen den größten Menschen auf der Welt zu helfen… nein, das ist nicht schön.“ Fürst Andrej, befremdet ob dieser Naivität: „‚Wenn alle Menschen nur nach ihrer Überzeugung kämpften, dann gäbe es keinen Krieg‘, sagte er. ‚Das wäre ja gerade sehr schön‘, entgegnete Pierre. Fürst Andrej lächelte. ‚Schon möglich, daß es schön wäre, aber das wird nie geschehen.‘ ‚Na, warum gehen Sie denn in den Krieg?‘ fragte Pierre. ‚Weswegen? Man muß eben. Außerdem gehe ich…‘ Er hielt inne. ‚Ich gehe deshalb, weil das Leben, das ich hier führe, weil dieses Leben – mir nicht paßt.'“
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Erster Teil, Kapitel 6. Übersetzung Marianne Kegel. München 1956.
Ein Monster bedroht Europa, ein Mörder, ein Bösewicht. Anna Pawlowna Scherer hustet und behauptet, die Grippe zu haben. >>> Sprung ins Jetzt: Wie, nicht Corona? Nein, Grippe<<< Ein Modewort, benutzt nur in den höchsten Kreisen. Ihre Einladung zur Abendgesellschaft wird man trotzdem nicht ausschlagen, ihr, der Vertrauten der Maria Fjodorowna, der höchsten Frau, Gattin des Zaren. Nicht nur die Einladungskarte ist französisch, auch die Konversation mit dem Gast, der vor den anderen kommt, um früher gehen zu können, ist mit französischen Floskeln durchsetzt. „Eh bien, mon prince.” Der Fürst soll bestätigen, daß es zum Krieg kommt, und nicht „alle Schandtaten und Grausamkeiten dieses Antichristen in Schutz nehmen.” Der Fürst demonstriert Kälte und Langeweile, ein scharfer Kontrast zum gespielten Enthusiasmus der Palowna. Fürst Wassilij, in lässigem Ton: „Was soll ich sagen?” Berater, Analysten, Strategen, wer auch immer, „man ist zu der Ansicht gelangt, dass Bonaparte seine Schiffe hinter sich verbrannt hat” >>> Sprung ins 21. Jahrhundert: Muß man ihm dann nicht Brücken bauen? Ihn vom Baum herunterholen, auf den er geklettert ist? Wer holt den bloß aus dieser Nummer wieder heraus? <<< „und ich glaube, wir sind im Begriff, die unsrigen ebenfalls zu verbrennen.” Machinationen, Kabinettstückchen. Die Palowna kommt in Fahrt. Er, Fürst Wassilij, soll nicht mit Österreich kommen. „Österreich wollte den Krieg niemals und will ihn auch jetzt nicht. Es verrät uns. Rußland allein muß der Retter Europas werden. Unser kaiserlicher Wohltäter kennt seine Berufung und wird ihr treu bleiben.” England versteht das nicht. Krämerseelen. Preußen? Hat schon klein beigegeben, „hat erklärt, Bonaparte sei unbesiegbar, ganz Europa könne nichts gegen ihn ausrichten…” >>> Fall ins Heute: Halt, Stopp! In welchem Monumentalfilm bin ich hier eigentlich? <<< „Cette fameuse neutralité prussienne… Ich setze all mein Vertrauen nur auf Gott und auf die hohe Bestimmung unseres lieben Kaisers. Er wird Europa retten!…”
>>> Und dann, der geniale Tolstoi, bricht das Pathos seiner Figur: „Sie hielt plötzlich inne und lächelte spöttisch über ihre eigene Erregung.” <<<
Zitate:
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Übersetzung Marianne Kegel. München 1956.
Zweites Gespräch zwischen dem Arzt Rieux und dem Journalisten Rambert. Er war von seiner Pariser Redaktion nach Oran geschickt worden, um für einen Bericht über die Lebensbedingungen der Araber zu recherchieren. Jetzt will er die gesperrte Stadt verlassen, weil er sich nicht zugehörig fühlt. Das lässt Rieux nicht gelten. Rambert will wider alle Berufsbarrieren, die den Arzt beschränken, ein Attest, eine Bescheinigung, dass er nicht an der Pest leidet, um die offizielle Genehmigung zur Ausreise zu erhalten. Das kann der Arzt nicht verantworten. Für den Grund, dass Rambert das Glück mit seiner Geliebten in Paris sucht, äußert er Verständnis. Dennoch bleibt er hart. „Ich kann Ihnen diese Bescheinigung nicht ausstellen, weil ich in Wahrheit tatsächlich gar nicht weiß, ob Sie die Krankheit haben oder nicht, und weil es mir in diesem Fall sogar unmöglich wäre zu bestätigen, dass Sie nicht angesteckt werden, während Sie von meinem Untersuchungszimmer zur Präfektur gehen.“ [S. 52] Die Weigerung trägt ihm den Vorwurf ein, nur abstrakt über Menschenschicksale zu entscheiden. Heute brachte Dr. Wiemer vom Robert-Koch-Institut den zweifelhaften Wert eines Corona-Immun-Ausweises zur Sprache, solange die Wissenschaft noch so wenig über die Infektionsverläufe weiß.
Oran und anderswo, 26. April 2020. Ziemlich am Anfang des Romans meldet sich bei Dr. Rieux der Journalist Raymond Rambert. Angeblich recherchiert er für eine große Pariser Zeitung über die arabische Bevölkerung in der Kolonie. Wie viele Araber es in Oran gibt, erfährt der Leser nicht. Die Hafenstadt, die noch nichts von der Pest weiß, liegt an der algerischen Mittelmeerküste. Der Gesundheitszustand sei nicht gut, sagt Rieux. Bevor er weiterspricht, fragt er nach dem Spielraum des Journalisten, nach seiner Freiheit, „die Wahrheit [zu] schreiben“. – „Natürlich“ dürfe er das, ist die Antwort. – „Ich meine, dürfen Sie selbst vernichtend urteilen?“ – „Nein, das freilich nicht. Aber ich nehme an, ein solches Urteil wäre unbegründet.“ Rieux erwiderte sanft, gewiss wäre eine solche Verurteilung unbegründet. Er habe […] nur erfahren wollen, ob Rambert rückhaltlos Bericht erstatten könne. „Für mich gibt es nur eine bedingungslose Stellungnahme. Ich kann also ihre Erklärungen nicht mit Auskünften unterstützen.“ – „So spricht Saint-Just“, sagte der Journalist lächelnd. Ohne die Stimme zu erheben, erwiderte Rieux, das wisse er nicht; aber so spreche ein Mensch, der genug habe von der Welt, in der er lebe, der aber seine Mitmenschen liebe und entschlossen sei, für seine Person Ungerechtigkeit und Zugeständnisse abzulehnen. Rambert zog die Schultern hoch und blickte den Arzt an.“ [10]
Ordnungen des Wissens. Der dunkle Hinweis auf Saint-Just irritiert mich (Xing). Camus‘ Tagebuch [Fünftes Heft, im Herbst 1945] verzeichnet im Zusammenhang mit der Arbeit an dem Roman ein Saint-Just-Zitat: „Ich glaube also, dass wir der Begeisterung bedürfen. Das schließt keinesfalls den gesunden Menschenverstand und die Besonnenheit aus.“ [328]* Setzen wir statt „Begeisterung“ andere Emotionen, wie z. B. „Empörung“ oder „Zynismus“, macht es einen Sinn. Der Arzt bewahrt sich sein persönliches Berufsethos. Die Frage nach dem Gesundheitszustand der Nomaden muss wissenschaftlich beantwortet werden. Mit einer Antwort aus der Perspektive des Helfers will er sich nicht zum Werkzeug einer Reportage machen lassen, von der man nicht weiß, welchen Zwecken sie dient. Rieux wird keine Anklage und keine Apologie des Kolonialismus unterstützen. Wenn die Virologin heute zu den Lockerungen der Social-distance-Maßnahmen kritisch anmerkt, sie fürchte einen neuen Anstieg der Fallzahlen, dann kann sie sich auf ihr Fachwissen berufen. Aber als Staatsbürgerin wird sie beim Abwägen der Menschenrechte gegeneinander zugeben müssen, dass man kein Grundrecht, auch das Recht auf Leben nicht, absolut setzen darf. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble weist heute zurecht darauf hin, dass der Staat die Menschenwürde zu achten und schützen hat. Und zur Würde des Menschen gehört unbedingt auch die Freiheit.
*Zitiert wird aus: Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951. Neuausgabe. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt
„Zu Hause: Der Ort, wo uns eine Tasse heißer Tee verzaubert“ [Korona-Würfelzucker]
Am nächsten Tag gibt es Entwarnung. Kaum noch tote Ratten. Eine präzise Beobachtung. Für die Xing sich aus dem aktuellen Nachrichtenstrom einen Begriff herausfischt: Herdenimmunität! Wir wandeln uns angesichts von Corona alle zu Hobby-Immunologen. Was ist aber, wenn die Rattenpopulation nur als Zwischenwirt für die Erreger gedient hat? Weshalb haben die Rattenindividuen die Nähe der Menschen gesucht, um sich vor ihren Augen einmal um sich zu drehen und zu krepieren? Das sind die Leerstellen, für die wir die Literatur so lieben. Nur Journalisten versuchen alles zu erklären. Noch spricht niemand von einer Epidemie. „An diesem Mittag, als Dr. Rieux vor seinem Hause vorfuhr, bemerkte er den Hauswart, der an der Straßenecke mühsam vorwärtstaumelte, den Kopf gesenkt hielt und wie eine Marionette Arme und Beine spreizte. Der alte Mann stützte sich auf einen Priester, den der Arzt kannte. Es war Pater Paneloux […]. Rieux wartete auf die beiden. Der alte Michel hatte glänzende Augen und einen pfeifenden Atem. Er hatte sich nicht wohl gefühlt und einen Augenblick an die frische Luft gehen wollen. Aber heftige Schmerzen im Hals, in den Achselhöhlen und in den Leisten hatten ihn gezwungen, umzukehren und die Hilfe von Pater Paneloux zu beanspruchen. ‚Es sind Geschwülste‘, sagte er. ‚Ich werde mich wohl überanstrengt haben‘. Der Arzt streckte den Arm aus dem Wagen und betastete Michels Hals; dort hatte sich ein holziger Knoten gebildet. ‚Gehen Sie zu Bett, messen Sie die Temperatur, ich komme heute Nachmittag vorbei‘. Als der Hauswart gegangen war, fragte Rieux den Pater, was er von dieser Rattengeschichte halte. ‚Oh‘, sagte der Pater, ‚es wird eine Epidemie sein‘, und seine Augen lächelten hinter den runden Brillengläsern.“ [13]
Ordnungen des Wissens: Es überrascht, dass nicht der Kliniker als erster die Seuche feststellt, nicht der Mediziner, sondern der Theologe, allerdings ein besonderer Gottesmann, „ein gelehrter, militanter Jesuit, der in unserer Stadt sogar von den religiös Gleichgültigen sehr geschätzt wurde.“ [13] Es braucht eine besondere Freiheit dazu, anzuerkennen, was ist. Die Freiheit, in der alle Systeme auf einen Nenner gebracht werden.
Facebook-Posts und Kommentare von Frauen [XX1, XX2 usw.)] und Männern [XY1, XY2 usw.] zum Zeitgeschehen
XX2 postet auf Facebook den Artikel von Jana Hensel [XX1] auf ZEIT ONLINE vom 13. April 2020: „Gleichberechtigung: Die Krise der Männer“ [Schlagzeile]. „In der Corona-Pandemie zeigt sich, wer in Deutschland die Macht hat. Männer glauben, die Lösungen zu haben, Frauen arbeiten derweil in systemrelevanten Berufen.“ [Darunter ein Foto von Markus Söder. Im Haupttext schreitet die Autorin die Front der meist männlichen Virologen ab und bringt ein paar Differenzierungen an, Merkel natürlich, und wie heißt diese unglaublich hübsche Intensivmedizinerin aus der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf noch mal? Der Fokus soll hier aber auf den Kommentaren liegen:]
XX2 [die Poster*in]: „Jana Hensel mit wahren Worten. Mir war das auch schon aufgefallen- ich hätte es aber nicht so schön vertexten können. Nebenbemerkung: nicht nur ist der Diskurs eher wieder männlicher, die Letalität ist es auch.“
XX3 dazu: „Der Bericht erinnert mich an die frühen 70iger, als die Gleichberechtigungswelle in Deutschland so richtig losging. Alice Schwarzer wird sich nicht freuen, das [sic!] wir Frauen angeblich nicht viel erreicht haben. Selbst wenn die Statistik eine höhere Männerquote aufweist, in einer Krise stehen Frauen oft besser ‚ihren Mann‘ als manche männlichen Geschlechtsgenossen. Diese Erfahrung mache ich immer wieder im Leben.
XY1: „Soso.“ [Dieser String, offensichtlich etwas Persönliches, wird hier abgebrochen.]
XX4 [im Anschluss XX2]: „Vielleicht räumt ja Corona jetzt ein wenig auf unter den ganzen Männern 50plus in den Chefetagen… 😈“
XY2: „Steht [sic!] das mit der Letalität und die letzte Bemerkung hier wirklich?“
XY3 [Ich, XING, fühle mich durch die letzte Bemerkung zu einem Kommentar angeregt, den ich nach dem Posten auf Facebook hier etwas ausbaue:]
Die Hauptakteure in Albert Camus‘ „Die Pest“ sind Männer: der Arzt Rieux, der Jesuit Pater [!] Paneloux, der namenlose Präfekt, der Müßiggänger Tarrou, der Journalist Rambert, der kleine Rathausangestellte Grand, der kriminelle Selbstmörder Cottard, und die schon Erwähnten: der namenlose alte Asthmatiker, der Hauswart Michel. Frauen kommen, in den ersten beiden Kapiteln jedenfalls, nur in den traditionellen Rollen als Mütter und Gattinnen vor, manchmal in nicht sehr schmeichelhaften Karikaturen. Auch „der Engel der Pest“ scheint ein Mann zu sein. Der mit der roten Lanze gegen die Türen schlägt. Und wer schwingt den sausenden Dreschflegel, den Rieux nachts über der Stadt kreisen hört? Wohl wieder ein Engel, ein Mann. Wahrscheinlich hat Corona in dem Roman herumgelesen und rächt sich jetzt (Corona ist weiblich, oder?).
Ordnungen des Wissens: Wer ist berufen, die Dinge beim Namen zu nennen? Im Falle der Beulen- und Lungenpest Allgemeinmediziner, Bakteriologen, Pulmonologen, dann Theologen, Soziologen… Rieux macht abends seine Hausbesuche: Der alte Asthmatiker sitzt wie immer auf seinem Bett und vertreibt sich die Zeit mit Erbsenzählen. Noch zählt niemand die Toten. Der Leser begegnet einem weiteren Bagatellisierer, weniger Ignorant, mehr amtlicher Leugner: „Immerhin telefonierte Rieux mit dem städtischen Entrattungsdienst, dessen Direktor er kannte. Hatte er schon von den Ratten gehört […]? Direktor Mercier hatte davon reden hören, man hatte sogar in seinen eigenen Diensträumen in der Nähe des Meeres über fünfzig Stück gefunden. Doch fragte er sich, ob das Ganze ernst zu nehmen sei. Rieux wusste es nicht, aber er war dafür, dass der Entrattungsdienst einschreite. ‚Ja‘, sagte Mercier, ‚mit einem schriftlichen Befehl. Wenn du meinst, es sei der Mühe wert, kann ich versuchen, einen zu erlangen‘. ‚Es ist schon der Mühe wert‘, sagte Rieux.“ [11]
Ordnungen des Wissens: Wer berufen ist, hat auch einen Ruf zu verlieren. Außer man beginnt zu zählen. Dabei kann man nichts falsch machen. Statistiker verstecken sich hinter der scheinbar neutralen Mathematik. Aus den Zahlen können Zweitwohnungsbesitzer Schlüsse ziehen. Aber nicht immer entsteht in der Villa auf dem Lande ein Dekameron. „Die Sache ging so weit, dass die Agentur Ransdoc […] bekannt gab, dass am 25. April allein 6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. Diese Zahl gab dem täglichen Schau-spiel, das die Stadt vor Augen hatte, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung. […] Am 28. April gab Ransdoc eine Ausbeute von ungefähr achttausend Ratten bekannt [Warum erst eine exakte, dann eine ungefähre Zahl? fragt Xing], und in der Stadt erreichte die Beklemmung einen Höhepunkt. Man verlangte durchgreifende Maßnahmen, man klagte die Behörden an, und einige, die ein Haus am Meer besaßen, spielten bereits mit dem Gedanken, sich dahin zurückzuziehen.“