Farbe bekennen, ohne Fahnen zu schwenken

My Fest, Berlin-Kreuzberg, 1. Mai 2019 (Foto: XING)

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Aber Bilder plappern oft nur so daher und bringen es selten auf den Punkt. Manchmal ist die Bedeutung hermetisch darin verschlossen, auch für mich selbst. Das bringt mich auf die gegenwärtige deutsche Hysterie. Wir schwenken nur noch Fahnen und tragen Symbole. Die FFP2-Maske ist zu einem solchen geworden, und heute Abend sollen die Fußballstadien deutschlandweit in Regenbogen-Farben erstrahlen.

Nachdem die UEFA-Führung diese Art der Beleuchtung als politische Aussage, die im Stadion nichts zu suchen habe, qualifiziert hat, ist nur der Schauplatz der deutsch-ungarischen Begegnung davon ausgenommen: die Allianz-Arena in München. Konsequentes Handeln sieht anders aus – der deutsche Kapitän durfte mit seiner Regenbogen-Armbinde spielen. Jetzt lässt der DFB Fähnchen verteilen… Aber keiner in der DFB-Führung hat die Eier, bei den Fans die behördlichen Corona-Auflagen durchzusetzen, unter denen das Spiel vor Zuschauern überhaupt nur erlaubt wurde. In denen die FFP-2-Maske nicht als Symbol des Mainstreams gilt, sondern als Schutz gegen die reale Gefahr einer COVID-19-Infektion eine vernünftige Rolle zugewiesen bekommt. Es wäre einer soziologischen Fallstudie wert, die Zahl der Fans im Stadion zu zählen, die ein Fähnchen schwenken u n d eine Maske tragen. Natürlich auch die Fangruppen, die weder die eine noch das andere bzw. nur eine(s) von beiden zeigen.

Bild: faz-net

1990 erzählte ich dem Freund in Amsterdam, ich würde ab dem Herbst als Deutschlehrer nach Ungarn gehen. „Dort werde ich dich nicht besuchen,“ sagte er sehr bestimmt, „dort leben nur Antisemiten und Homophobe.“ Ich bin trotzdem über die Grenze gegangen, weil ich wusste, dass es nicht so ist. Die meisten Filme von Rainer Werner Fassbinder hatte ich, in der westdeutschen Provinz lebend, während der Achtziger Jahre in Budapest gesehen. „In einem Jahr mit 13 Monden“ zum Beispiel, in dem kleinen Programmkino „Kinizsi“ im IX. Stadtbezirk (Ferencváros). Elvira, der Transsexuelle, der sich aus Liebe zu einem Mann zur Frau hatte umgestalten lassen… Elvira wird auf dem Homo-Strich von Freiern verprügelt, weil sie nicht das bekamen, was sie erwarteten…

Wie kann ich mein Gefühl beschreiben, als ich diese Szenen sah? Eine Alarmstimmung, ähnlich der, als ich mit meiner hochschwangeren Frau in ein Münchener Lesben-Café ging, um dort ihre Freundin zu treffen? Oder eine Mischung aus Furcht und Faszination in den männerbündnerischen Ritualen, an denen ich als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr beteiligt war – als Opfer und Täter? Die neuen Rekruten aus dem Tiefschlaf holen und im Schlafanzug unter die kalte Dusche stellen? Mit den Stubenkameraden nackt auf den Spinden hocken und literweise Bier aus den Stahlhelmen trinken (müssen)? In der Zwölfmannstube Eifersuchtsszenen homosexueller Paare nachspielen, nur so, Proben für einen nie gedrehten Film?

Wenn mich ein Schüler oder Student (und dies ist nicht nur das generative Maskulinum, sondern hier auch eine Markierung) danach fragen würde, welche Einstellung ich zum Anderssein hätte, würde ich ihm von meinen Erfahrungen erzählen. Vorausgesetzt, sie fänden ein Ohr. Ich würde versuchen zu erklären, dass die Liebe voller Zauber und voller Schrecken ist. Dass es vor allem dann schwierig wird, wenn sie körperlich werden will, dieses Begehren aber von der geliebten Person nicht erwidert wird. Dass es eine Kunst ist, nein zu sagen, ohne den anderen zu verletzen. Und dass wir nicht Elvira werden müssen, sondern Elvirus bleiben dürfen, wenn der andere uns wirklich liebt.

Die ungarische Regierung und ihre Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament irren. Mit dem Gesetz, das eine geregelte pädagogische Information über alternative Wege zum persönlichen Glück – „the pursuit of happyness“ ist nicht nur ein Film, sondern steht in der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – verhindern soll, bleiben sie dem falschen Glauben an die Wirksamkeit von schulischen Lehrplänen verhaftet. Das persönliche Gespräch des Pädagogen mit den ihm Anvertrauten werden sie nicht verhindern können. Und ich habe die Filme von Rainer Werner Faßbinder gefunden, ohne dass ich als Schüler darüber in der Schule instruiert wurde.

Klar ist aber auch, dass die Werte von Toleranz und Vielfalt nur schwer gelebt werden können ohne unterstützende rechtliche und institutionelle Strukturen. Statt Fähnchen schwenken zu lassen, muss der DFB endlich strukturell und normierend dafür sorgen, dass ein Outing auch in den weniger prominenten Etagen des Profi- und Amateurfußballs nicht zu sozialer Ausgrenzung führt. Dass nicht Schiedsrichter*innen („endlich das Gendersternchen“, ruft Detre dem Xing ins Ohr), dass nicht die Unparteiischen von hysterischen Eltern verprügelt werden, nur weil sie Regeln zur Geltung verhelfen wollen, die zum Wohle aller vereinbart sind. Und dass er seine Pflicht als Veranstalter ernst nimmt, einer neuen Ausbreitung der Pandemie, nun in ihrer Delta-Variante, Einhalt zu gebieten.

Aber Mut brauchen wir alle.

Aphorismus #1 – aforizma #1

Der Hergelaufene. Man wird diesem und jenem so lange zugerechnet, bis man die Zurechnungsfähigkeit verliert.

A senkiházi. Addig hozzaszámítanak máshoz, sorolnak téged ide-oda, ameddig el nem veszíted a beszámíthatóságodat.

Westöstlicher Diwan

Hafis-Goethe-Denkmal in Weimar

Westöstlicher Diwan

vom Entführungskommando mit dem Zeichenstift

nackt auf den fliegenden Teppich gepfählt

die Vorratsdaten gespeichert

lug ich unter der schwarzen Kapuze hervor

der Goethe, der Hafis, die Pistolen im Nacken

korrigieren panisch den Kurs

nur ich widerspenstige zitternde Kompassnadel

strecke weit meine trockene Zunge aus

ein wenig am Grönlandeis zu lecken

(XING)

 

Hafis-Goethe-Denkmal in Weimar

Das im Jahr 2000 eingeweihte Hafis-Goethe-Denkmal am Beethovenplatz in Weimar mit zwei aus einem einzigen Granitblock geschnittenen Stühlen, die an die Begegnung Goethes mit dem Werk des persischen Nationaldichters Hafis (1326-1390) erinnern sollen. Auf dem Teppich aus Bronze Verse von Hafis und Goethe. (Foto: Most curious)

Auf der Andenseite

Der Kondor, stolzer Vogel – im Ohr hat man unweigerlich die Indioflöte und den mehrfachen Aufschwung der Melodie. Jetzt auch real in dieser Stadt, keine Fußgängerzone in Europa ohne Indio-Musik. Die Maschinen von Lima nach Cuzco – natürlich auch zu den übrigen Zielen auf der anderen Seite – fliegen immer sehr früh morgens, um die Aufwinde, die vom Pazifik kommen, zu nutzen und sich nicht den landseitigen Abwinden später am Tag entgegenstemmen zu müssen. Machu Pichu – wenn man es aus großer Höhe anschauen würde – hat die Umrisse eines riesigen Vogels. Ich bin aber gar nicht dort, sondern hier in Budapest, in der Endstation der kleinen Untergrundbahn. Auf der Andenseite bin ich jetzt nur, weil Kriemhild immer die Silben verschluckt, wenn sie „auf der anderen Seite“ sagen will, und das kommt oft vor. Kriemhild ist die deutsche Version von Ildikó. Machu und Pichu – jedenfalls wie ich es ausgesprochen gehört habe, mit diesem „tsch“ – hätten bei lascher Aussprache des Endvokals im Ungarischen auch so ihre Anklänge, anstößige dazu. Wenn Kriemhild flucht, dann flucht sie auf das Geschlecht der Mutter, und das tut sie wie ein Kutscher, also machomäßig, was auch dazu passt, wie sie raucht und Schnaps trinkt. Weder Weibchen noch Emanze, also ganz auf der Andenseite. Die kleine U-Bahn fährt im Zwei-Minuten-Takt, es gibt wenig Zeit, sich umzuschauen, außer man nimmt den übernächsten Zug. Zur Hundertjahrfeier hat man die Stationen wieder hergerichtet, die alten Kacheln ergänzt und aufgefrischt, die gusseisernen Träger neu gestrichen, und ein paar Vitrinen aufgestellt, in denen Bezüge zum Pester Leben der vorletzten Jahrhundertwende hergestellt werden. Zum Beispiel hier die Plakatkunst. Und weil ich mir Zeit genommen habe, mache ich eine Entdeckung.

Internationaler Holocaust-Gedenktag in Budapest

Angesichts der Tatsache, dass bald keine Zeitzeugen mehr leben, richtet sich der Blick nach vorn: Im Budapester Holocaust-Gedenkzentrum wurde heute aus Anlass des Gedenktages das Projekt „Egy/másért“ („For Each Other“ – „Ein jeder für den Anderen“) vorgestellt. Die Botschafter von sieben Ländern (Deutschland, Großbritannien, Kanada, Polen, Schweden, Tschechien, USA) stellten hochrangige kulturelle Projekte vor, die sich – zum Teil länderübergreifend – schon seit Jahren erfolgreich für Toleranz und Völkerverständigung, für den Schutz von Minderheiten und der Menschenrechte, für die Integration von Migranten, gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Holocaust-Leugnung einsetzen. Mit der Initiative möchten die Organisatoren, unterstützt vom Ungarischen Ministerium für Kultur und Bildung, insbesondere junge Menschen für diese Themen interessieren und zum sozialen Engagement in eigenen Projekten anregen.