Tierfabel
Die Ratte wechselt die Farbe
Eine Ratte sollte den Eingang zum Rattenloch bewachen. Sie trat in Verhandlungen mit dem Anführer einer Katzenschar, einem alten Haudegen mit vielen Narben und einer schwarzen Augenklappe. „Ich weiß den Weg zum Rattenkönig.“ – „Und?“ – „Ich führe Euch hin, wenn er schläft.“ – „Was verlangst Du dafür?“ – „Kein Geld, nur freies Geleit. Aber wenn ich die Ehre hätte, bei Euch als Katze mitzumachen…“ – „Warum das?“ – „Es war schon immer mein Traum. Ich bin im falschen Fell geboren.“
Der Einäugige versprach’s. Die Ratte tat alles, um den eigenen König ans Messer zu liefern. Als es vorbei war, strebten sie, über Rattenkadaver hinwegsteigend, zum Ausgang. „Wann darf ich den alten Adam ausziehen?“ fragte die Ratte. „Ich würde gern ein weißes Angorafell tragen.“ „Wart’s ab“ knurrte der Einäugige. Vor dem Rattenloch waren die Katzen in zwei Reihen angetreten und bildeten eine Gasse. „Da hindurch! Meine Katzen werden Dir den schmutzigen Rattenkittel abnehmen.“ Und der Einäugige stieß die Ratte nach vorn. „Aber womit soll ich mich kleiden?“ quiekte die Ratte. „Dein Drunter, das rote Trikot, reicht für die Operation.“ Und die Katzen rissen der Ratte das Fell über die Ohren.
Der Löwe und der Pfau
Paul Klee: Die Zwitscher-Maschine
Kaum denkt man noch daran – aber es gab einmal eine Zeit, da schien König Nobel an einem Pfauen seinen Narren gefressen zu haben. Es hatte dem Löwen gefallen, die Gesetze und Erlasse nicht selbst in Kraft zu setzen, sondern sie in seinem Beisein vom Pfauen unterzeichnen zu lassen. „Wie soll ich sagen,” dröhnte der Löwe, „der Pfau führt die Feder mit der Eleganz eines Florettfechters.” Damals waren Mantel-und-Degen-Filme in Mode. Grund genug für den Pfauen, seine Federn ordentlich zu spreizen. Freilich hatte er Neider. Böse Stimmen verbreiteten das Gerücht, der Pfau schmücke sich mit fremden Federn. Die Höflinge forderten ihn auf, ein Rad zu schlagen. Der Pfau aber wies das von sich: „Ich sitze zur Rechten des Königs. Da habe ich anderes im Sinn als alberne Zirkusstücke.” Die Höflinge verabredeten sich zu einem nächtlichen Überfall auf seine Kammer, um sich in Besitz des Federkleids zu bringen. Aber es kam heraus, dass der Pfau seinen Platz neben dem Thron niemals verließ. Da fasste sich ein Page, ein sehr junger Kater, ein Herz und verkrallte sich in die Pfauenfedern. Der Hofhund wollte es ihm verbieten und stürzte auf ihn zu. Der Kater erschrak und suchte schnell das Weite. Natürlich ein abgekartetes Spiel. Denn der Kater auf der Flucht riss das Federkleid wie ohne Absicht mit sich. Der Pfau stand nackt da: ein mechanisches Räderwerk, ein Schreibautomat, eine Zwitscher-Maschine.
Der Wolf und die Großmutter
In diesem Land will man von Wölfen nichts wissen. Ja schon, wir haben sie. Der König schüttelt unwillig seine Mähne. Wölfe haben keine Bedeutung. Randexistenzen. Behaupten alles zu wissen über die langen Wanderungen. Jetzt hat sich einer an seiner eigenen Großmutter verschluckt, ich bitte Sie. Sollte man nicht doch mal genauer hinsehen, fragt Dr. Bubó, mehr zu sich selbst als zum Löwen gewandt. Es handelt sich doch wohl eher um eine Trübung der Seele als des Verstandes. Ich fresse doch nicht meine eigene Großmutter. Ich auch nicht, sagt der Löwe. Vielleicht eine Art Initiationsritus? Jetzt übertreiben Sie aber, Doktor! Soll sich sein Rudel drum kümmern. Dr. Bubó seufzt. In diesem Land will man über Wölfe nichts wissen.
*Dr. Bubó, populäre Trickfilmgestalt im Ungarischen Fernsehen 1974 ff. – Titelmelodie der Serie
Hintergrund: Ungarischer Rechtsextremist entdeckt jüdische Wurzeln (WELT-Online 19. August 2012)
Rechtsextreme Jobbik-Partei in Ungarn – Antisemit entdeckt seine jüdischen Wurzeln (Süddeutsche Zeitung 15.08.2012)
Der Adler und der Goldhamster
Der Goldhamster, er wusste nicht wie und warum, erfreute sich der besonderen Gunst des Königs Nobel. So kam er, von anderen Höflingen argwöhnisch beäugt, in einem Gefühl (vielleicht) trügerischer Sicherheit seinem eigentlichen Lebenszweck nach: Er hamsterte. Und wie um seinem Namen Ehre zu machen, hamsterte er mit Vorliebe Gold – Gold in jeder Form, als Staub oder Nugget, gegossen in Barren oder geprägt in Münzen – auch Blattgold verschmähte er nicht. Er ging im Palast des Königs ein und aus, und beinahe hätte man gesagt, er fühle sich dort heimisch, wäre nicht an ihm ein gewisses zögerliches Moment, eine sozusagen zeremonielle Steifheit zu beobachten gewesen. Befragt von Hofräten seines Vertrauens, warum er, der doch in der Sonne des Souveräns förmlich bade, sich nicht ein wenig lockerer gebärde, wies er mit zierlicher Geste hinauf zu den Deckengewölben des Königspalastes: „Es ist wegen der vielen scharfen Schwerter, die von der Decke herabhängen.“ Seitdem nannte man ihn in gewissen Kreisen „unseren Damokles“. Dem König kam das zu Ohren, und in einem Anfall von Güte empfahl er seinem Goldhamster eine Sommerfrische auf dem platten Land. „Aber Majestät, unter dem freien Himmel habe ich nur die Angriffe des Adlers oder anderer Raubvögel zu erwarten. Es wäre mein sicherer Tod.“ Da verbot der König in einem Erlass dem Adler und anderen Raubvögeln bei ihrem Leben, die Klauen in den Goldhamster zu schlagen, und gab dies dem Hamster als Schutzbrief mit. Ganz entspannt auf der hart getretenen Erde, auf dem kurz gefressenen Gras der weiten Tiefebene, genoss unser Goldhamster den Brand der Sommersonne. Da wurde er von einem Stein erschlagen. Mit brechenden Augen erkannte er den Adler, der den Brocken in seinen Klauen aus dem Felsgebirge her getragen und direkt über ihm ausgeklinkt hatte.
Der Löwe sagte: „Der Adler verdient Respekt“ und gab ihm die Aufsicht über das Bankenwesen. Die Bankenaufsicht wurde ins Postministerium eingemeindet, das der Adler nach der Verbannung der Schnecke bereits führte.
Der Wanderfalke in der Straßenbahn
Öffentlich unterwegs zu sein ist das größere Abenteuer. Schnappschuss in der Straßenbahn Linie Nr. 2 – ein Falke auf der Faust eines Mitreisenden. Ein Gerfalke? Wahrscheinlich nicht. Als Vogel, der in den Tundren Sibiriens, in Grönland und Alaska heimisch ist, dürfte es dem Gerfalken in den ungarischen Sommern zu heiß sein. Auf Fachsimpeleien mit dem Eigner kann ich mich freilich nicht einlassen, dazu reicht mein Ungarisch nicht. Und „Wanderfalke“ passt auch besser zu „Wanderjahren“ im Titel dieses Blogs… Also ein Wanderfalke, auch dies ein Beizvogel.
Der Vogel trägt keine Haube. Aufmerksam scheint er die draußen vorbei fliegende Stadtlandschaft zu registrieren. Welcher Bilderstrom! „Entschuldigen Sie, darf ich ein Foto machen?“ Den Falken darf ich fotografieren, den Jäger nicht. Sehr reserviert, der Mann: entschlossene Miene, die Mundwinkel zeigen nach unten. Statuenhaft. Wie die markante Gestalt zu Füßen des Königs Matthias, links unten im Ensemble des Jagdbrunnens, zu finden im Burgpalast von Buda.
Sie soll Galeotto Marzio (1427-1497) darstellen, den italienischen Chronisten des ungarischen Königs Matthias Corvinus (Hunyady Mátyás) , Humanist, Arzt und Astronom, der in Padua und Bologna sowie an der von Matthias gegründeten Universität Pressburg lehrte. Man muss ihn sich als lebensfrohen und schwergewichtigen Menschen vorstellen. Vom Bildhauer wahrscheinlich sehr ins Asketische idealisiert, wirkt die Skulptur in ihrer Kühle und Strenge wie das Vorbild meines Gegenübers in der Straßenbahn. Oder besser: Bei diesem hier ist es eher Verschlossenheit als Strenge, obwohl die Beine – anders als bei der Galeotto-Skulptur – auseinander gestellt sind. Und hinter der kühlen Fassade ist der Eifer zu spüren, mit dem der Mann das Vorbild kopiert. Er wirkt wie gefrorenes Feuer. In den Augen lese ich: „Wir eine Kolonie? Niemals. Abhängig weder von Moskau noch von Brüssel. “ Angesichts von soviel Heroismus muss ich meinen Mut nun ordentlich zu einer Frage zusammenkratzen: „Sólyom ez a madár?“ – „Nem, héja.“ Also kein Falke, sondern ein Habicht.
Der Adler im Aufwind
Nach der Verbannung der Schnecke vom Hofe des Königs befand sich der Adler im Aufwind.
Nicht nur, dass seine Karte des Tierreichs nun in allen Amts- und Schulstuben zwischen dem Staatswappen und dem Glaubensbekenntnis der Tiernation hing. Nein, ihm war auch das Ministerium für Post und Telekommunikation anvertraut worden. Es gab viel zu tun. Rigoros modernisierte er das System der Schneckenpost und ersetzte es durch ein straff organisiertes Netz von Brieftaubenstationen. Jungadler schraubten sich in die Höhe und erspähten jede verdächtige Bewegung auf den gepflasterten Heerstraßen. Eulen wurden als Nachtsichtgeräte an den Grenzen eingesetzt.
Am Hofe flog er ein und aus, er hatte, so sagte man, den direkten Draht zum König. Nur selten weilte er in seinem angestammten Horst, lieber pickte er sich eine Brieftaube heraus und verfolgte ihren Dienstflug aus großer Höhe. Oder er gesellte sich zu einem Jungadler und begleitete ihn auf seinen Kontrollflügen. Manchmal machte er sich den Spaß, des Nachts mit einem Luftballon oder einem flatternden Tuch die Eulen zu erschrecken. Er schien überall gleichzeitig zu sein. Bald nannte man ihn „Das Auge des Königs Nobel”.
Eines schönen blauen Tages nutze er einen Steigwind, wie er ihn noch nie erlebt hatte, und er gelangte höher hinauf als jemals. Da begegnete er Gott. Gott war wie… wie sollte er es beschreiben? Gott segelte ruhig dahin. Die starren, weit ausgespannten Flügel, auch die Schwanzfedern wie der langgestreckte Körper, alles war aus einem glatten, weiß schimmerndern Material. Die Flügelspitzen zitterten leicht in einer geheimen Spannung, in gelassener Kraft, so wollte ihm scheinen. Vorn lief der Körper in eine glatte gläserne Kuppel aus, ein riesiges Auge. Mit den Schwingen rudernd, hielt der Adler gleiche Höhe und starrte in dieses Auge. Im Innern des Glaskörpers blickte er in zwei weitere Augen, und darin spiegelten sich seine eigenen Augen…
Da fasste der Adler den Entschluss, den König der Tiere zu stürzen.
Die Schnecke auf der Landkarte
Der Löwe befahl, das Reich der Tiere auf einer Landkarte zu verzeichnen. Der Adler legte seinen Entwurf vor.
Die Schnecke kroch darauf herum: „So kurz sollen die Wege sein in Deinem Reich, mein König? Man merkt: Der Entwurf stammt von einem, der den Staub der Landstraße zu fressen nicht nötig hat. Und der Stein, der mir gestern im Wege lag, als ich Deinem Hofe zustrebte, ist auch nicht eingezeichnet.“
„Dafür aber deine Schleimspur von hier ins Exil!“ höhnte der Löwe und wischte die Schnecke mit einem Hieb seiner Pranke beiseite. Und zum Hofstaat gewandt: „Der Adler hat eben die beste Klaue!“