Ein guter Schachspieler ( Wieder gelesen: Krieg und Frieden # 5 )

Napoleons Geschichtsschreiber Thiers sagt, indem er seinen Helden zu rechtfertigen sucht, daß Napoleon gegen seinen Willen zu den Mauern Moskaus hingelockt worden sei […]. Er hat ebenso recht wie alle jene Historiker, die geschichtliche Ereignisse aus dem Willen eines einzelnen Menschen zu erklären versuchen, ebenso recht wie jene russischen Geschichtsschreiber, die da behaupten, Napoleon sei durch die Kunst russischer Feldherren nach Moskau gelockt worden. Hier spielen außer dem Gesetz des nachträglichen Hineindeutens auch noch die Wechselbeziehungen mit hinein, die alles noch mehr verwirren. Ein guter Schachspieler ist, wenn er eine Partie verloren hat, fest überzeugt, daß dieser Verlust durch einen Fehler seinerseits verursacht ist, und sucht diesen Fehler am Anfang seines Spiels. Aber er denkt nicht daran, daß im Verlauf des ganzen Spiels bei jedem Zug solche Fehler gemacht worden sind, und daß auch nicht ein einziger Zug ganz fehlerfrei gewesen ist. Und gerade der Fehler, auf den er seine Aufmerksamkeit lenkt, fällt ihm nur deshalb auf, weil der Gegner Vorteil daraus gezogen hat. Um wieviel verwickelter aber ist nun das Spiel eines Krieges, das unter gewissen zeitlichen Bedingungen abrollt und wo nicht ein einziger Wille leblose Marionetten lenkt, sondern alles, was sich ereignet, dem Zusammenfluß zahlreicher, mannigfaltiger Willkürlichkeiten entspricht.

Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Zehnter Teil, Kapitel 7. München (Winkler) 1956, Seiten 972-973.