Der Insulaner #1

„Wir alle sind Insulaner.“ Der letzte Satz auf Seite 241. Diese Lektüre passt in unsere Zeit. Zwei Wochen vor Weihnachten, in einem Anfall von Regression, las ich noch etwas anderes. Drei Jugendromane von Enid Blyton, ich weiß nicht zum wievielten Mal, darunter „Die Insel der Abenteuer“. In allen dreien, auch in der „Burg“ und in dem „Tal der Abenteuer“, geht es vor allem darum, den Zugang zu einem scheinbar hermetisch abgeschlossenen Raum zu finden. Die „Insel“ ist von heftig umbrandeten Klippen umgeben, und es braucht einen gewieften Skipper, um die Lücke zu passieren. Das Bergwerk auf der Insel ist aber auch durch einen Stollen unter dem Meeresboden erreichbar. Den abwärts führenden Treppengang dorthin verschließt eine Kellertür, die hinter gestapelten Kisten verborgen ist.

Es wirkt wie ein bedeutsamer Zufall, dass ich danach das Buch von Gavin Francis geschenkt bekam. Es war aber bedachtsam gewählt. Die Tochter hatte es im Gepäck. Sie kam von Berlin herüber und unterbrach die Selbstisolation ihrer Eltern. Das ungarische Wort dafür, elszigetelés, bewahrt in seinem Stamm noch die Herkunft von sziget, die Insel. Ausgesetzt wie Alexander Selkirk, interniert wie Napoleon auf Elba sind wir freilich nicht. Aber wir wägen Risiko und Ertrag ab und verzichten deshalb auf manche aushäusige Aktivität.

Das Manuskript, so der Autor im Vorwort, war seit fünf Monaten fertig, als die COVID19-Pandemie ausbrach. Für ihn ist die Leidenschaft, alte Inselkarten (oder die Kopien davon) zusammenzutragen, Ausdruck seiner individuellen Biographie. Phasen von Vernetzung, Kooperation und Unrast in den Großstädten wechseln ab mit dem Rückzug auf eine Insel und der Reduktion der sozialen Kontakte. In einer oft abweisenden natürlichen Umgebung kommt er zur Ruhe.

Die Kunst besteht darin, die Balance zu halten. Selbstfindung gelingt weder hier noch dort allein, sondern in der Bewegung. Kein Sprung von Insel zu Insel, sondern der Lebensdrift anheimgegeben. So treibt der Gedankengang von Zitat zu Zitat, von Reminiszenz zu Reminiszenz, und oft kehrt er zu einer Impression oder Erkenntnis zurück, diese noch tiefer auslotend. Die Textstruktur gleicht deshalb selbst Inselgruppen oder Archipelen, ja, fast scheinen die Absätze dem Narrativ von schwimmenden Inseln zu entsprechen, die einmal kartographisch erfasst, von späteren Seefahrern nicht mehr gefunden werden. Ein anderer Ausdruck für Intertextualität.

Statt an Plinius‘ magischen schwimmenden Inseln war Annie Dillard eher an echten schwimmenden Inseln interessiert, an dahingleitenden Mangroven-Verbünden, die sie in Florida und den Gewässern rings um die Galapagosinseln beobachtet hatte. „Sie treibt taumelnd und haltlos vor dem Wind,“ schrieb sie über eine Mangroveninsel. „Wahrscheinlich wird sie über den fremden Ozean driften, sich nähren von Tod und Wachstum, auf ihrem Weg provisorischen Boden einfangen, mit Krabben zwischen den Zehen und Seeschwalben im Haar.“

Annie Dillard, Teaching a Stone to Talk, Edinburgh: Canongate 2016. Zitiert nach Gavin Francis, Inseln, 238.

Das gedruckte Buch enthält viele Zitate und Reproduktionen von historischen Karten. Die topographischen Angaben lassen sich manchmal leider auch mit der Lupe nicht lesen; vielleicht sind sie auf dem Bildschirm, wenn sie im E-Book angezoomt werden, besser zu entziffern.

Gavin Francis, Inseln : Die Kartierung einer Sehnsucht. Köln: Dumont 2021 <Island Dreams. Mapping an Obsession. Edinburg: Cannongate 2020. Aus dem Englischen von Sofia Blind>.

Gestern Zweitimpfung mit Moderna

Genau zwölf Wochen liegt der erste Shot mit Astra Zeneca zurück. Die Hamburger Gesundheitsämter hielten sich genau an das XING-Motto (Crossing whenever possible) und reichten eine Injektion mit einem mRNA-Impfstoff nach. Boosting nach den Empfehlungen der STIKO!

Noch ein Wort zum Hamburger Impfzentrum: Super Organisation! Tolle Kommunikation! Lauter junge Ärzte und Ärztinnen oder Freiwillige, denen trotz Wochenende ihre Arbeit Spaß zu machen schien. Alle geben Dir das Gefühl, dass sie gerade auf Dich gewartet haben und sich ganz besonders freuen, dass Du mit ihnen zusammen der Impfkampagne zum Erfolg verhilfst.

Ein angenehmer Nebeneffekt des Mund- und Nasenschutzes: Maskenhaftes Lächeln, aus Gründen der Professionalität oder des Marketings, musst Du nicht über Dich ergehen lassen. Das Lächeln siehst Du in den Augen.

Keine Menschenschlangen wegen des guten Zeitmanagements (Foto: XING)

Farbe bekennen, ohne Fahnen zu schwenken

My Fest, Berlin-Kreuzberg, 1. Mai 2019 (Foto: XING)

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Aber Bilder plappern oft nur so daher und bringen es selten auf den Punkt. Manchmal ist die Bedeutung hermetisch darin verschlossen, auch für mich selbst. Das bringt mich auf die gegenwärtige deutsche Hysterie. Wir schwenken nur noch Fahnen und tragen Symbole. Die FFP2-Maske ist zu einem solchen geworden, und heute Abend sollen die Fußballstadien deutschlandweit in Regenbogen-Farben erstrahlen.

Nachdem die UEFA-Führung diese Art der Beleuchtung als politische Aussage, die im Stadion nichts zu suchen habe, qualifiziert hat, ist nur der Schauplatz der deutsch-ungarischen Begegnung davon ausgenommen: die Allianz-Arena in München. Konsequentes Handeln sieht anders aus – der deutsche Kapitän durfte mit seiner Regenbogen-Armbinde spielen. Jetzt lässt der DFB Fähnchen verteilen… Aber keiner in der DFB-Führung hat die Eier, bei den Fans die behördlichen Corona-Auflagen durchzusetzen, unter denen das Spiel vor Zuschauern überhaupt nur erlaubt wurde. In denen die FFP-2-Maske nicht als Symbol des Mainstreams gilt, sondern als Schutz gegen die reale Gefahr einer COVID-19-Infektion eine vernünftige Rolle zugewiesen bekommt. Es wäre einer soziologischen Fallstudie wert, die Zahl der Fans im Stadion zu zählen, die ein Fähnchen schwenken u n d eine Maske tragen. Natürlich auch die Fangruppen, die weder die eine noch das andere bzw. nur eine(s) von beiden zeigen.

Bild: faz-net

1990 erzählte ich dem Freund in Amsterdam, ich würde ab dem Herbst als Deutschlehrer nach Ungarn gehen. „Dort werde ich dich nicht besuchen,“ sagte er sehr bestimmt, „dort leben nur Antisemiten und Homophobe.“ Ich bin trotzdem über die Grenze gegangen, weil ich wusste, dass es nicht so ist. Die meisten Filme von Rainer Werner Fassbinder hatte ich, in der westdeutschen Provinz lebend, während der Achtziger Jahre in Budapest gesehen. „In einem Jahr mit 13 Monden“ zum Beispiel, in dem kleinen Programmkino „Kinizsi“ im IX. Stadtbezirk (Ferencváros). Elvira, der Transsexuelle, der sich aus Liebe zu einem Mann zur Frau hatte umgestalten lassen… Elvira wird auf dem Homo-Strich von Freiern verprügelt, weil sie nicht das bekamen, was sie erwarteten…

Wie kann ich mein Gefühl beschreiben, als ich diese Szenen sah? Eine Alarmstimmung, ähnlich der, als ich mit meiner hochschwangeren Frau in ein Münchener Lesben-Café ging, um dort ihre Freundin zu treffen? Oder eine Mischung aus Furcht und Faszination in den männerbündnerischen Ritualen, an denen ich als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr beteiligt war – als Opfer und Täter? Die neuen Rekruten aus dem Tiefschlaf holen und im Schlafanzug unter die kalte Dusche stellen? Mit den Stubenkameraden nackt auf den Spinden hocken und literweise Bier aus den Stahlhelmen trinken (müssen)? In der Zwölfmannstube Eifersuchtsszenen homosexueller Paare nachspielen, nur so, Proben für einen nie gedrehten Film?

Wenn mich ein Schüler oder Student (und dies ist nicht nur das generative Maskulinum, sondern hier auch eine Markierung) danach fragen würde, welche Einstellung ich zum Anderssein hätte, würde ich ihm von meinen Erfahrungen erzählen. Vorausgesetzt, sie fänden ein Ohr. Ich würde versuchen zu erklären, dass die Liebe voller Zauber und voller Schrecken ist. Dass es vor allem dann schwierig wird, wenn sie körperlich werden will, dieses Begehren aber von der geliebten Person nicht erwidert wird. Dass es eine Kunst ist, nein zu sagen, ohne den anderen zu verletzen. Und dass wir nicht Elvira werden müssen, sondern Elvirus bleiben dürfen, wenn der andere uns wirklich liebt.

Die ungarische Regierung und ihre Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament irren. Mit dem Gesetz, das eine geregelte pädagogische Information über alternative Wege zum persönlichen Glück – „the pursuit of happyness“ ist nicht nur ein Film, sondern steht in der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – verhindern soll, bleiben sie dem falschen Glauben an die Wirksamkeit von schulischen Lehrplänen verhaftet. Das persönliche Gespräch des Pädagogen mit den ihm Anvertrauten werden sie nicht verhindern können. Und ich habe die Filme von Rainer Werner Faßbinder gefunden, ohne dass ich als Schüler darüber in der Schule instruiert wurde.

Klar ist aber auch, dass die Werte von Toleranz und Vielfalt nur schwer gelebt werden können ohne unterstützende rechtliche und institutionelle Strukturen. Statt Fähnchen schwenken zu lassen, muss der DFB endlich strukturell und normierend dafür sorgen, dass ein Outing auch in den weniger prominenten Etagen des Profi- und Amateurfußballs nicht zu sozialer Ausgrenzung führt. Dass nicht Schiedsrichter*innen („endlich das Gendersternchen“, ruft Detre dem Xing ins Ohr), dass nicht die Unparteiischen von hysterischen Eltern verprügelt werden, nur weil sie Regeln zur Geltung verhelfen wollen, die zum Wohle aller vereinbart sind. Und dass er seine Pflicht als Veranstalter ernst nimmt, einer neuen Ausbreitung der Pandemie, nun in ihrer Delta-Variante, Einhalt zu gebieten.

Aber Mut brauchen wir alle.

Shelter for neurotics and realists

Váróterem neurotikusoknak és realistáknak – Wartehäuschen für Neurotiker und Realisten

Warte, warte nur im Häuschen!
Kommt Corona auch zu dir?
Corona macht jetzt nur ein Päuschen,
Trinkt vor’m Kiosk noch ein Bier.
Trifft sich dann im Stadion,
Reimt sich was auf „Million“.

Aus der freiwilligen Quarantäne mit einem Satz von Jean Paul

Pestfarben, Pestfeuer im Garten von Fehértó

Leo Läufer macht Mut in seiner lesenswerten Mitteilung aus der Kronengruft. Leo spiegelt seine Lektüre des Romans „Titan“ von Jean Paul im gegenwärtigen Pandemie-Geschehen. Der Held erkennt nach langen Irrwegen, dass die Welt nicht verändert werden kann. Aber statt uns einfach mit ihr abzufinden, sollen wir uns um ein wenig Menschlichkeit und Solidarität bemühen. In diesem Zusammenhang gewinnt ein Satz aus dem Roman an Bedeutung, die klären zu helfen Leo seine Leser aufruft. Das gibt mir, Xing, den Mut, meine Lesart hier zu unterbreiten.

Freiheit ist die frohe Ewigkeit, Unglück für den Sklaven ist Feuersbrunst im Kerker – – (Jean Paul)

Vertrackte Syntax. Die beiden Hauptsätze scheinen eine Antithese zu bilden. Aber die Parallelitäten sind verschoben. Der Effekt: Die lesenden Augen springen zwischen den beiden Sätzen hin und her. Das Fruchtbare der Sentenz könnte in dieser Bewegung liegen – wenn diese mehr als das bloße Abschreiten der Zellenmaße im „Kerker“ der Antithese sein kann. Die Dialektik kommt in Gang, weil die Antithese nicht die pure Negation der These ist.

Also: dem Subjekt „Freiheit“ im ersten würde ein Subjekt „Unfreiheit“ im zweiten Satz entsprechen. Jean Paul setzt stattdessen der Abstraktion zwei Konkreta entgegen. Der „Kerker“ ist aber in eine präpositionale Ergänzung zu „Feuersbrunst“ gerutscht, und der „Sklave“ steht als Präpositionalobjekt zu „Unglück“.

Erste Deutung: Der Sklave könnte es sich auf einem Strohhaufen in seinem „Kerker“ einigermaßen bequem einrichten, sein Missgeschick aber will es, dass Gitter und Ketten ihn an der Flucht vor der „Feuersbrunst“ hindern. Aber ein Sklave im Kerker? Die Konkreta widersprechen sich. Der Sklave soll arbeiten, im Kerker ist er unnütz.

Der schiefe Chiasmus entsteht dadurch, dass „Unglück“ das Subjekt im zweiten Satz bildet. Dem „Unglück“ steht nicht „Glück“ oder konkret „Frohsein“ als Subjekt im ersten Satz entgegen, vielmehr entspricht ihm als Gegenspieler das Attribut „froh“ (zu „Ewigkeit“). Der Ausdruck „frohe Ewigkeit“ definiert „Freiheit“. „Ewigkeit“ hat als Ge­genspieler die „Feuersbrunst“, die schnell verlischt (vgl. die Metapher „Stroh­feuer“). Manche Gefangene zünden in ihrer Zelle selbst ein Feuer an, nur um von den Wächtern gerettet und in eine andere Zelle gesperrt zu werden. Diese Rettung bringt keine Freiheit.

Zweite Deutung: Statt ein Feuer zu legen gilt es, ein ewiges Licht der Freude anzuzünden. Dieses leuchtet demjenigen, der nicht Sklave, sondern frei in seinem Kerker ist. An dem Kerker, der Welt, ändert das frohe Schaffen nichts. Aber es leuchtet als Utopie der Freiheit hinein.

Alles auf einen Nenner

Wohl die meisten Jahresrückblicke, auch die persönlichen, auf das Jahr 2020 bringen alles in Verbindung mit der Pandemie. Die diesjährige Leseliste verzeichnet oft, genau wie beim Schreiber dieser Zeilen, im Frühjahr die Lektüre von Albert Camus‘ Roman „Die Pest“. Ich beende das Lesejahr mit dem 2018 bei Suhrkamp erschienenen Memento mori von Esther Kinsky, Hain : Geländeroman. Wenn man sagt, der Roman spiele in Italien >>> Weiterlesen