Abstraktion, Guilotine – Zu Albert Camus „Die Pest“ (8)

Zweites Gespräch zwischen dem Arzt Rieux und dem Journalisten Rambert. Er war von seiner Pariser Redaktion nach Oran geschickt worden, um für einen Bericht über die Lebensbedingungen der Araber zu recherchieren. Jetzt will er die gesperrte Stadt verlassen, weil er sich nicht zugehörig fühlt. Das lässt Rieux nicht gelten. Rambert will wider alle Berufsbarrieren, die den Arzt beschränken, ein Attest, eine Bescheinigung, dass er nicht an der Pest leidet, um die offizielle Genehmigung zur Ausreise zu erhalten. Das kann der Arzt nicht verantworten. Für den Grund, dass Rambert das Glück mit seiner Geliebten in Paris sucht, äußert er Verständnis. Dennoch bleibt er hart. „Ich kann Ihnen diese Bescheinigung nicht ausstellen, weil ich in Wahrheit tatsächlich gar nicht weiß, ob Sie die Krankheit haben oder nicht, und weil es mir in diesem Fall sogar unmöglich wäre zu bestätigen, dass Sie nicht angesteckt werden, während Sie von meinem Untersuchungszimmer zur Präfektur gehen.“ [S. 52] Die Weigerung trägt ihm den Vorwurf ein, nur abstrakt über Menschenschicksale zu entscheiden. Heute brachte Dr. Wiemer vom Robert-Koch-Institut den zweifelhaften Wert eines Corona-Immun-Ausweises zur Sprache, solange die Wissenschaft noch so wenig über die Infektionsverläufe weiß.

Journalisten haben abstrakte Wahrheiten nicht gern – Zu Albert Camus „Die Pest“ (7)

Oran und anderswo, 26. April 2020. Ziemlich am Anfang des Romans meldet sich bei Dr. Rieux der Journalist Raymond Rambert. Angeblich recherchiert er für eine große Pariser Zeitung über die arabische Bevölkerung in der Kolonie. Wie viele Araber es in Oran gibt, erfährt der Leser nicht. Die Hafenstadt, die noch nichts von der Pest weiß, liegt an der algerischen Mittelmeerküste. Der Gesundheitszustand sei nicht gut, sagt Rieux. Bevor er weiterspricht, fragt er nach dem Spielraum des Journalisten, nach seiner Freiheit, „die Wahrheit [zu] schreiben“. – „Natürlich“ dürfe er das, ist die Antwort. – „Ich meine, dürfen Sie selbst vernichtend urteilen?“ – „Nein, das freilich nicht. Aber ich nehme an, ein solches Urteil wäre unbegründet.“ Rieux erwiderte sanft, gewiss wäre eine solche Verurteilung unbegründet. Er habe […] nur erfahren wollen, ob Rambert rückhaltlos Bericht erstatten könne. „Für mich gibt es nur eine bedingungslose Stellungnahme. Ich kann also ihre Erklärungen nicht mit Auskünften unterstützen.“ – „So spricht Saint-Just“, sagte der Journalist lächelnd. Ohne die Stimme zu erheben, erwiderte Rieux, das wisse er nicht; aber so spreche ein Mensch, der genug habe von der Welt, in der er lebe, der aber seine Mitmenschen liebe und entschlossen sei, für seine Person Ungerechtigkeit und Zugeständnisse abzulehnen. Rambert zog die Schultern hoch und blickte den Arzt an.“ [10]

Ordnungen des Wissens. Der dunkle Hinweis auf Saint-Just irritiert mich (Xing). Camus‘ Tagebuch [Fünftes Heft, im Herbst 1945] verzeichnet im Zusammenhang mit der Arbeit an dem Roman ein Saint-Just-Zitat: „Ich glaube also, dass wir der Begeisterung bedürfen. Das schließt keinesfalls den gesunden Menschenverstand und die Besonnenheit aus.“ [328]* Setzen wir statt „Begeisterung“ andere Emotionen, wie z. B. „Empörung“ oder „Zynismus“, macht es einen Sinn. Der Arzt bewahrt sich sein persönliches Berufsethos. Die Frage nach dem Gesundheitszustand der Nomaden muss wissenschaftlich beantwortet werden. Mit einer Antwort aus der Perspektive des Helfers will er sich nicht zum Werkzeug einer Reportage machen lassen, von der man nicht weiß, welchen Zwecken sie dient. Rieux wird keine Anklage und keine Apologie des Kolonialismus unterstützen. Wenn die Virologin heute zu den Lockerungen der Social-distance-Maßnahmen kritisch anmerkt, sie fürchte einen neuen Anstieg der Fallzahlen, dann kann sie sich auf ihr Fachwissen berufen. Aber als Staatsbürgerin wird sie beim Abwägen der Men­schenrechte gegeneinander zugeben müssen, dass man kein Grundrecht, auch das Recht auf Leben nicht, absolut setzen darf. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble weist heute zurecht darauf hin, dass der Staat die Menschenwürde zu achten und schützen hat. Und zur Würde des Menschen gehört unbedingt auch die Freiheit.

*Zitiert wird aus: Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951. Neuausgabe. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt

Wer darf es aussprechen? Zu Albert Camus „Die Pest“ (6)

„Zu Hause: Der Ort, wo uns eine Tasse heißer Tee verzaubert“ [Korona-Würfelzucker]

Am nächsten Tag gibt es Entwarnung. Kaum noch tote Ratten. Eine präzise Beobachtung. Für die Xing sich aus dem aktuellen Nachrichtenstrom einen Begriff herausfischt: Herdenimmunität! Wir wandeln uns angesichts von Corona alle zu Hobby-Immunologen. Was ist aber, wenn die Rattenpopulation nur als Zwischenwirt für die Erreger gedient hat? Weshalb haben die Rattenindividuen die Nähe der Menschen gesucht, um sich vor ihren Augen einmal um sich zu drehen und zu krepieren? Das sind die Leerstellen, für die wir die Literatur so lieben. Nur Journalisten versuchen alles zu erklären. Noch spricht niemand von einer Epidemie. „An diesem Mittag, als Dr. Rieux vor seinem Hause vorfuhr, bemerkte er den Hauswart, der an der Straßenecke mühsam vorwärtstaumelte, den Kopf gesenkt hielt und wie eine Marionette Arme und Beine spreizte. Der alte Mann stützte sich auf einen Priester, den der Arzt kannte. Es war Pater Paneloux […]. Rieux wartete auf die beiden. Der alte Michel hatte glänzende Augen und einen pfeifenden Atem. Er hatte sich nicht wohl gefühlt und einen Augenblick an die frische Luft gehen wollen. Aber heftige Schmerzen im Hals, in den Achselhöhlen und in den Leisten hatten ihn gezwungen, umzukehren und die Hilfe von Pater Paneloux zu beanspruchen. ‚Es sind Geschwülste‘, sagte er. ‚Ich werde mich wohl überanstrengt haben‘. Der Arzt streckte den Arm aus dem Wagen und betastete Michels Hals; dort hatte sich ein holziger Knoten gebildet. ‚Gehen Sie zu Bett, messen Sie die Temperatur, ich komme heute Nachmittag vorbei‘. Als der Hauswart gegangen war, fragte Rieux den Pater, was er von dieser Rattengeschichte halte. ‚Oh‘, sagte der Pater, ‚es wird eine Epidemie sein‘, und seine Augen lächelten hinter den runden Brillengläsern.“ [13]

Ordnungen des Wissens: Es überrascht, dass nicht der Kliniker als erster die Seuche feststellt, nicht der Mediziner, sondern der Theologe, allerdings ein besonderer Gottesmann, „ein gelehrter, militanter Jesuit, der in unserer Stadt sogar von den religiös Gleichgültigen sehr geschätzt wurde.“ [13] Es braucht eine besondere Freiheit dazu, anzuerkennen, was ist. Die Freiheit, in der alle Systeme auf einen Nenner gebracht werden.

Wieder gelesen: Albert Camus „Die Pest“ (4)

Wieder gelesen: Albert Camus „Die Pest“ (4)

Ordnungen des Wissens: Wer ist berufen, die Dinge beim Namen zu nennen? Im Falle der Beulen- und Lungenpest Allgemeinmediziner, Bakteriologen, Pulmonologen, dann Theologen, Soziologen… Rieux macht abends seine Hausbesuche: Der alte Asthmatiker sitzt wie immer auf seinem Bett und vertreibt sich die Zeit mit Erbsenzählen. Noch zählt niemand die Toten. Der Leser begegnet einem weiteren Bagatellisierer, weniger Ignorant, mehr amtlicher Leugner: „Immerhin telefonierte Rieux mit dem städtischen Entrattungsdienst, dessen Direktor er kannte. Hatte er schon von den Ratten gehört […]? Direktor Mercier hatte davon reden hören, man hatte sogar in seinen eigenen Diensträumen in der Nähe des Meeres über fünfzig Stück gefunden. Doch fragte er sich, ob das Ganze ernst zu nehmen sei. Rieux wusste es nicht, aber er war dafür, dass der Entrattungsdienst einschreite. ‚Ja‘, sagte Mercier, ‚mit einem schriftlichen Befehl. Wenn du meinst, es sei der Mühe wert, kann ich ver­suchen, einen zu erlangen‘. ‚Es ist schon der Mühe wert‘, sagte Rieux.“ [11]

Ordnungen des Wissens: Wer berufen ist, hat auch einen Ruf zu verlieren. Außer man beginnt zu zäh­len. Dabei kann man nichts falsch machen. Statistiker verstecken sich hinter der scheinbar neutralen Mathematik. Aus den Zahlen können Zweitwohnungsbesitzer Schlüsse ziehen. Aber nicht immer entsteht in der Villa auf dem Lande ein Dekameron. „Die Sache ging so weit, dass die Agentur Ransdoc […] bekannt gab, dass am 25. April allein 6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. Diese Zahl gab dem täglichen Schau-spiel, das die Stadt vor Augen hatte, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung. […] Am 28. April gab Ransdoc eine Ausbeute von ungefähr achttausend Ratten bekannt [Warum erst eine exakte, dann eine ungefähre Zahl? fragt Xing], und in der Stadt erreichte die Beklemmung einen Höhepunkt. Man verlangte durchgreifende Maßnahmen, man klagte die Behörden an, und einige, die ein Haus am Meer besaßen, spielten bereits mit dem Gedanken, sich dahin zurückzuziehen.“

Wieder gelesen: Albert Camus „Die Pest“ (3)

Nehmen wir einen der Bagatellisierer. Der Hauswart Michel wird von einem Bewohner des Hauses, dem Arzt Rieux, am 16. April mit einer toten Ratte im Flur konfrontiert:

Nager und Abgenagtes

„Seine Haltung war übrigens eindeutig: es gab keine Ratten im Haus […] sie mussten hereingebracht worden sein. […] Am nächsten Tag […] hielt der Hauswart den Arzt im Vorübergehen an und beklagte sich, Lausbuben hätten drei tote Ratten mitten in den Gang gelegt.” [8-9] Gerade an dem alten Hauswart wird der Verlauf der Erkrankung und das Sterben geschildert. Moralisch gesehen, wäre der Tod die gerechte Strafe für das Leugnen. Aber es geht nicht um Moral. Die Pest rafft Gerechte und Ungerechte dahin. Aus Camus‘ Tagebuch Februar 1942: „Die befreiende Pest. Eine glückliche Stadt. Man lebt nach allerlei Systemen. Die Pest: bringt alle Systeme auf einen Nenner. Aber die Menschen sterben trotzdem. Doppelt sinnlos.“ [179 f.*]

Es geht nicht um Moral, vielmehr um Ordnungen des Wissens. Michels Körper weiß mehr, als sein Intellekt wahrhaben will. Die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks Haltung: „Den Hauswart fand der Arzt neben der Haustür an die Maurer gelehnt. Sein sonst hochrotes Gesicht schien eingefallen. […] Er schien niedergeschlagen und sorgenvoll. Unwillkürlich rieb er sich den Hals. Rieux fragte ihn, wie es ihm gehe. Der Hauswart konn­te nicht sagen, es gehe ausgesprochen schlecht. Nur fühlte er sich nicht wohl. Seiner Meinung kam es von seiner Gemütsverfassung. Diese Rattengeschichte hatte ihn stark mitgenommen, sobald die Tiere verschwunden seien, werde es ihm wieder viel besser gehen.“ [11]

*Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951. Neuausgabe. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt