Synästhesien und Sprachspiele

Vor fünf Wochen war ich der Georg-Grosz-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste: „Korrekt und anarchisch“ soll er gewesen sein, ganz nach meinem Xing-Geschmack. Viel Kleinformatiges.  Die frühen DADA-Montagen und spätere wunderbar collagierte Postkartengrüße an einen Freund lohnten das genaue Hinsehen. Entdeckungen waren zu machen, z. B. Grosz’ Publikationsorte nach dem Austritt aus der KPD, die seinem sozialen Engagement zur Zeit der Weimarer Republik dennoch weiterhin eine Bühne boten, die Zeitschrift  „Die Pleite“ von Wieland Herzfelde zum Beispiel. Bei der  großen Ausstellung von Katharina Sieverding („Close up“ im Budapester Ludwig-Museum, April 2006) hatte ich ein Foto gemacht, auf dem ihre großformatige Graphik das Logo dieses Periodikums zeigte, ohne dass ich damals von dieser Quelle wusste oder gehört hätte. Unwillkürlich ordnete ich die Graphik der Berliner Republik zu, wie sie sich nach der Wiedervereinigung entwickelt haben mag.Katharina Sieverding - Ausstellung in Budapest April 2006 Späte Entdeckung: Erst jetzt fällt mir auf, wieviele bekannte ungarische Künstler auf dem Foto zu sehen sind. Und mit welch hintergründigem Lächeln sie sich abwenden. Von was? Mimik und halbe Körperdrehung beschwören mir Franz Kafkas Polizisten herauf, der – nach dem Weg zum Bahnhof gefragt – dem Atemlosen beiseite gespro-
chen klar macht: „Gib’s auf!“

Warum ich erst jetzt über meinen Nachmittag in der Georg-Grosz-Ausstellung schreibe?  Beiläufig hatte ich mir mir aus einem Film-Interview mit Grosz eine Erzählung über seine Schulzeit notiert: „Der Rohrstock in der Oberrealschule wurde nach dem benannt, der ihn fühlte.“ Der Lehrer befahl: „Hol den Grosz aus dem Schrank!“, wenn Grosz Prügel beziehen sollte. Mich erschütterte das zynische Sprachspiel, und unwillkürlich erinnerte ich mich an einen  Internatspräfekten aus meiner Schulzeit in den 60er Jahren: Er verfügte über drei Stöcke mit den Namen „Heilsam“, „Balsam“ und „Grausam“. Der zu bestrafende Schüler hatte die Wahl zwischen „Heilsam“ und  „Balsam“.  Der Pädagoge fügte Schläge mit dem „Grausamen“ nach seinem Belieben hinzu. Ich hörte davon erzählen und entschied mich gegen den Eintritt in das katholische Internat.

Inzwischen werden in Deutschland immer mehr  Fälle des sexuellen Missbrauchs von Schülern bekannt. Die Vorgänge in der reformpädagogischen Odenwaldschule öffnen aber die Augen dafür, dass die Strafrituale einer Schwarzen Pädagogik, wie immer auch sadistische Züge sich hineinmischen mögen, genau unterschieden werden müssen vom sexuellen Missbrauch durch den geliebten, charismatischen Lehrer. Nur der Missbrauch führt zum abgrundtiefen Riss zwischen mir und den anderen, zum Herausfallen des Ichs aus der Welt.

Auf der Andenseite

Der Kondor, stolzer Vogel – im Ohr hat man unweigerlich die Indioflöte und den mehrfachen Aufschwung der Melodie. Jetzt auch real in dieser Stadt, keine Fußgängerzone in Europa ohne Indio-Musik. Die Maschinen von Lima nach Cuzco – natürlich auch zu den übrigen Zielen auf der anderen Seite – fliegen immer sehr früh morgens, um die Aufwinde, die vom Pazifik kommen, zu nutzen und sich nicht den landseitigen Abwinden später am Tag entgegenstemmen zu müssen. Machu Pichu – wenn man es aus großer Höhe anschauen würde – hat die Umrisse eines riesigen Vogels. Ich bin aber gar nicht dort, sondern hier in Budapest, in der Endstation der kleinen Untergrundbahn. Auf der Andenseite bin ich jetzt nur, weil Kriemhild immer die Silben verschluckt, wenn sie „auf der anderen Seite“ sagen will, und das kommt oft vor. Kriemhild ist die deutsche Version von Ildikó. Machu und Pichu – jedenfalls wie ich es ausgesprochen gehört habe, mit diesem „tsch“ – hätten bei lascher Aussprache des Endvokals im Ungarischen auch so ihre Anklänge, anstößige dazu. Wenn Kriemhild flucht, dann flucht sie auf das Geschlecht der Mutter, und das tut sie wie ein Kutscher, also machomäßig, was auch dazu passt, wie sie raucht und Schnaps trinkt. Weder Weibchen noch Emanze, also ganz auf der Andenseite. Die kleine U-Bahn fährt im Zwei-Minuten-Takt, es gibt wenig Zeit, sich umzuschauen, außer man nimmt den übernächsten Zug. Zur Hundertjahrfeier hat man die Stationen wieder hergerichtet, die alten Kacheln ergänzt und aufgefrischt, die gusseisernen Träger neu gestrichen, und ein paar Vitrinen aufgestellt, in denen Bezüge zum Pester Leben der vorletzten Jahrhundertwende hergestellt werden. Zum Beispiel hier die Plakatkunst. Und weil ich mir Zeit genommen habe, mache ich eine Entdeckung.

Schafft ein, zwei, viele Gärten im Internet!

Interview mit Alexander Kluge in der FAZ vom Wochenende: „Nicht mein Denken, sondern die Formwelt, in der ich es äußere, ändert sich.“ Das Internet wächst mit den traditionellen Domänen der Presse, des Buches  und des Filmes zu einem neuen Medium  zusammen. „Es gibt eine neue Sehnsucht nach Nachhaltigkeit und nach einem Hortus conclusus, einem abgeschlossenen Garten. Das hat nichts mit der Lust am Surfen zu tun – auf einem Ozean können Sie als Surfer kaum überleben. Stattdessen ist ein neues Interesse an Gefäßen und Begrenzungen entstanden.“ Dies verlangt eine Kunst der konstellativen Dramaturgie, die im Grunde schon bei Ovid vorhanden war und etwa mit Balzac und Dos Passos in die Moderne gelangte.

Also hinaus mit der Botanisiertrommel in den wilden Dschungel des World Wide Web, exotische Gewächse ausgraben und ins eigene Biotop verpflanzen, ein paar Lesefrüchte aufbrechen und die Samen ins Beet einsenken, und das regelmäßige Gießen nicht vergessen! Die neue ars poetica des Blogs!

Vollständiges Interview mit Alexander Kluge

Meldekraut

Lektüre von Herta Müllers Roman „Atemschaukel.“ Die Kapitelüberschrift „Meldekraut“ könnte dem Sprachgebrauch der Siebenbürger Sachsen entnommen sein. Das Wort schmeckt aber auch nach Diktatur und Spitzelwesen, es ruft zum Appell. Herta Müller jedoch spielt nicht mit der Sprache: „Nein. Das Suchen nach dem richtigen Ausdruck hat sie manchmal satt bis zum Überdruss. Sie macht ihre Arbeit, die in ihren Augen eine Arbeit ist, wie die anderer Menschen auch, die versuchen ihr Tagwerk möglichst gut zu erledigen. Sie erfindet auch keine Wörter, wie ihr der Frager unterstellt.“ [Jan Haag: Herta Müller in Tübingen]

Lageralltag der ins Sowjetland Deportierten, ewiges Ringen mit dem „Hungerengel“. Die Nahrhaftigkeit des Unkrauts im Frühling. Es wird holzig und bitter im Sommer und Herbst. Je ungenießbarer, desto schöner. Die botanische Genauigkeit der Schilderung macht neugierig. Kenne ich die Pflanze, habe ich sie schon einmal gegessen? Meine westfälische Großmutter hatte „Melle“ im Garten, der – indem sie Witwe eines Eisenbahners war – an der Strecke Köln-Münster lag. „Gartenmelde“ (Atriplex hortensis), aus dem Unkraut „Melde“ (Atriplex) kultiviert, das  schon im Althochdeutschen zur Wortfamilie „Mehl“ gehört, der weiß bestäubten Blätter wegen [Wasserzieher 18./1974,  S.302]? Das könnte es sein: „Meldekraut, so silbergrün, ist eine kühle Pflanze, ein Frühlingsessen.“ [Müller, 2009. S.24] Leider war bei Oma immer alles zur Unkenntlichkeit verkocht. „Wir hatten zwei Kochrezepte für das Meldekraut: Die Meldekrautblätter kann man, gesalzen natürlich, roh essen, wie Feldsalat. Den wilden Dill fein zerrupfen und draufstreuen. Oder ganze Meldekrautstiele in Salzwasser kochen. Mit dem Löffel aus dem Wasser gefischt, ergeben sie einen berauschenden Falschen Spinat. Die Brühe trinkt man dazu, entweder als klare Suppe oder als grünen Tee.“ Thema ist nicht das Essen, sondern der „chronische“ Hunger der Lagerinsassen.

Der fixierende Blick, die quälende Genauigkeit, präzise Schnitte mit dem Sprachskalpell kennzeichnen die Haltung der Autorin gegenüber dem Terror. Empörung wäre zu wenig. Damit folgt sie dem Programm der ästhetischen Erziehung des Menschen Friedrich Schillers, das schon in seiner Rezension zu G. A. Bürgers Gedichten von 1791 angelegt ist:

„Ein erzürnter Schauspieler wird uns schwerlich ein edler Repräsentant des Unwillens werden; ein Dichter nehme sich ja in Acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen. So, wie der Dichter selbst bloß leidender Theil ist, muß seine Empfindung unausbleiblich von ihrer idealischen Allgemeinheit zu einer unvollkommenen Individualität herabsinken.  Aus der sanftern und fernenden Erinnerung mag er dichten, und dann desto besser für ihn, jemehr er an sich erfahren hat, was er besingt; aber ja niemals unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affects, den er uns schön versinnlichen soll. Selbst in Gedichten, von denen man zu sagen pflegt, daß die Liebe, die Freundschaft u.s.w., selbst dem Dichter den Pinsel dabey geführt habe, hatte er damit anfangen müssen, sich selbst fremd zu werden, den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität los zu wickeln, seine Leidenschaft aus einer mildernden Ferne anzuschauen. Das Idealschöne wird schlechterdings nur durch eine Freyheit des Geistes, durch eine Selbstthätigkeit möglich, welche die Uebermacht der Leidenschaft aufhebt.“

Zusendung aus Ulanbataar

Die Kollegin aus Ulanbataar (Mongolei) sendet zu Weihnachten ein Gedicht von Galsan Tschinag:

Wie ich Deutsch lernte

Von einem Ohr, das achtzehn Winter verhärtet haben,
wollen sich die wildfremden Bezeichnungen nicht einfangen lassen.
Sie sind scheuer als die Wildpferde in den Mongolensteppen.
Vor allem die Substantive ähneln verteufelt den windgeilen Stuten,
die an der Spitze der Herde hin und hertänzeln.
Jede hat so etwas wie ein Fohlen bei sich: den Artikel.
Und ein Fohlen, so muss man wissen ist schlüpfrig wie ein Fisch:
Das Lasso bleibt zehnmal schwieriger an ihm hängen
als an einer eckigen und kantigen Stute.
Nicht umsonst heißt es wohl:
Fängst du ein Fohlen auch erst mit dem dritten Wurf,
so halte dich schon für einen Lassokönner.
Ich bin nie ein Lassokönner gewesen, und es sah nicht so aus,
als ob die fremde Wortherde einen aus mir machen würde.