Ortung

Louviers? Holzwickede? Was dieser Porzellanteller mit meiner jüngsten Romanlektüre zu tun hat? Das erfahren Leser:innen in dieser Rezension:

Mary Ann Shaffer/ Annie Barrows, „Deine Juliet“

Mir gefällt der Originaltitel besser: The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society. In der Übersetzung des Clubnamens geht die Alliteration PPP und durch die Genitivkette ein wenig die Poesie verloren: Club der Guernseyer Freunde von Literatur und Kartoffelschalenauflauf. Die paradoxe Zusammenstellung von literarischem Anspruch und dem Rezept aus Küchenabfällen bleibt dennoch erhalten. Ansonsten ist die Übersetzung durch Margarete Längsfeld und Martina Tichy angenehm leicht. Das Unvereinbare, das der britische Humor miteinander versöhnt, blitzt auch im Text immer wieder hervor. Das Schwere wird nicht verschwiegen, aber der Leser darf immer wieder einmal erleichtert auflachen. Er darf es nicht nur, er muss es sogar, angesichts der witzigen Einfälle der Autorinnen.

Die Handlung spielt im Frühjahr 1946 auf der Kanalinsel Guernsey, die – im Besitz der Krone, aber nie Teil des Königsreichs – während des Krieges von der Deutschen Wehrmacht besetzt war. Schon wieder eine Inselgeschichte – doch durch die Form des Briefromans in vielen Narrationen, die in Rückblenden den Anschluss an die Geschichte der Besatzungsjahre suchen. Die persönlichen Perspektiven ergeben ein buntes Kaleidoskop der Inselbewohner. Die Besatzer erhalten mit ausgefeilter Bürokratie eine Zwangsbewirtschaftung aller landwirtschaftlichen Produkte aufrecht, um diese der Versorgung ihrer Armee in Nordfrankreich zuzuführen. Der literarische Club wird bei einer Razzia aus der Not des Augenblicks geboren. Oder aus der Taufe gehoben, um ein illegales Abendmahl zu tarnen, bei dem ein dem Zugriff der Deutschen entzogenes Schwein verspeist wird. Um die Tarnung aufrecht zu erhalten, müssen die literarischen Abende wiederholt werden. Das stellt die lektüre-ungewohnten Clubmitglieder vor Aufgaben, die starke Kontraste zu ihrer Alltagstätigkeit hervorrufen.

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Emotionaler Transnationalismus

Rezension (erschienen in Budapester Zeitung 2017 Nr. 44)

„Im goldnen Monat Oktober war’s / transparenter wurden die Tage” – Elegisch im Ton kommt es daher: Wilhelm Drostes neuestes – ja – Buch, das es nur als E-Book gibt. Vor einem Monat ist es erschienen. Droste, schon seit fast vierzig Jahren im freiwilligen Exil, schreibt kein weiteres Wintermärchen, Deutschland ist nicht das Thema. „Ungarische Zustände” ist der Titel.

Heinrich Heine – der Schmerzensmann in der „Matratzengruft” seines Pariser Exils – geißelte in bitterböser Satire die politisch-literarischen Zustände im Deutschland des Vormärz. Deutsche Themen gäbe es ja auch heute zuhauf. Der Aufstieg der AfD zum Beispiel. Die Führungsrolle Deutschlands in Europa, die so gar nicht gewollte, und wenn, natürlich nur gemeinsam mit dem neuen Napoleon in Frankreich. Da aber in Ungarn „Europe’s New Strongman” die europäische Agenda dominieren will, klingt der Titel wie ein Weck- oder Ordnungsruf. Nicht mit einer kolonialistischen Attitüde? Einige Beispiele gefällig? Man findet sie in Heinz Küppers „Wörterbuch der deutschen Umgangssprache“: „Zustände wie am oberen Nil” heißt es nach 1900 im Gefolge von Reiseberichten aus Oberägypten und dem oberen Sudan, um äußerst primitive Verhältnisse zu etikettieren. Es herrschen „Zustände wie im alten Rom“, wo nach den Annalen des Tacitus „alle Sünden und Laster zusammenfließen und verherrlicht werden“.

Ist das nur ein mehr oder weniger geschickter Griff des deutschen Verlags in die Marketing-Kiste? Nein. Der Titel stammt von Droste selbst. Im Herbst 2008 kündigte er in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Drei Raben” (Heft 14, Editorial) eine Veranstaltung an, die dann am 3. Dezember 2009 in seinem Café Eckermann über die Bühne ging. Ungarische Lyrik des 19. und 20. Jahrhunderts, in deutschen Übersetzungen und Nachdichtungen von Meister Wilhelm selbst, gelesen von Michael Grosse. Im Programmheft heißt es zurückhaltend: „Ungari­sche Zustände beleuchtet die vorliegende Gedichtsauswahl aus unterschiedlichen historischen und in­dividuellen Perspektiven, gleichzeitig aber richtet sich der Fokus auf europäische Zustände.” In der Ankündigung über ein Jahr zuvor klang es noch martialischer: „Ungarische Zustände, das ist der bedrohliche Arbeitstitel dieser poetischen Attacke.” Was ist von diesem Kampfesgeist geblieben?

In der aktuellen Publikation geht nicht in erster Linie um das aktuelle Ungarn. Oder nur in dem Sinne, wie es der Ausruf „Es ist, um Zu­stände zu kriegen!” ausdrücken würde. Es geht vor allem um den Autor selbst und seinen Seelenzustand. Nicht zufällig hat er seine Dissertation über den Einfluss des Ortes auf den Dichter geschrieben und dies an Rainer Maria Rilke und Endre Ady und ihren zahlreichen Aufenthaltsorten belegt. Durchaus anrührend, wenn auch manchmal ein wenig sentimental, gibt Droste seiner verzweifelten Liebe zu Ungarn Ausdruck. Verzweifelt ist sie, weil am Anfang ein ganz großer Wille steht, und am Ende das Leiden an der Wahlheimat. In unseren Tagen, in denen so viel von „Fluchtursachen” die Rede ist, ist vor allem der Anfang, die freiwillige Migration und die tiefe emotio­nale Bindungswilligkeit interessant. Der Leser erfährt, wie jemand den Lehm des Sauerlandes von den Sohlen streift und sich in den Jahren vor 1989 in Ungarn heimisch zu machen versucht, in diesem unbekannten Land mit einer ganz eigenen Exotik. Die verqualmten Kaffeehäuser, eine weitere Leidenschaft Drostes, in der Metropole an der Donau, dem „Paris des Ostens”, bersten von bärtigen, langhaarigen Intellektuellen und attraktiven jungen Frauen. Die lässige Diktatur unter Kádár verleiht der Budapester Boheme ein übersteigertes Bewusstsein der eigenen Bedeutung – ein Blütentraum, der in den fünfundzwanzig Jahren nach der Wende im eiskalten Hauch des Marktes erfrieren und im Gluthauch der Parteipolitik verdorren wird. Ein öffentlicher Diskurs, der den Namen verdiente, findet spätestens unter der populistischen Orbán-Regierung nicht mehr statt. Im Gegenteil: Oppositionelle Zeitungen, Online-Portale und Sender werden mundtot gemacht.

Angesichts solcher Enttäuschungen braucht die Liebe ein starkes Fundament. Für Droste ist dies vor allem die ungarische Sprache, in der er sich den Menschen, vor allem dem Schwieger­vater György Enyedi nähern kann. (Die Tochter, Ildikó Enyedi, Drostes Ehefrau und Mutter der beiden gemeinsamen Kinder, hat in diesem Jahr den „Goldenen Bären” gewonnen – mit ihrem Film „Körper und Seele”.) Ihr Vater, der viele Sprachen beherrschte, beschwieg das Deutsche, als hätte er es vergessen wollen. „Jahrzehnte hat es gedauert, bis es mir irgendwann wie Schuppen von den Augen fiel, dass meine Liebe zu Budapest und Ungarn ganz entscheidend darauf basiert, dass hier jüdisches Leben, jüdisches Denken, jüdische Geselligkeit präsent geblieben sind.” Sagt Droste. György Enyedi konnte als mittelloser, aber begabter Junge halb­jüdischer Herkunft – sein Vater ist in Bergen-Belsen umge­kommen – dank eines Stipendiums am Gymnasium der Piaristen lernen. Dieser Status bedeutete unter dem Horthy-Regime zunächst auch einen Schutz vor antisemitischer Verfolgung, bis die Greiftrupps der ungarischen Pfeilkreuzler durch die Stadt schwärmten und er in den Untergrund gehen musste.

Das Gebäude der Piaristen unweit der Elisabethbrücke ist – neben der ungarischen Sprache – die zweite Konstante in der Erzählung von Wilhelm Droste. Eine Konstante in Bewegung: über die Jahre präsentiert sich dieser Bau dem Ich-Erzähler in vielfältigen Funktionen, zunächst als Sitz der geistes­wissenschaftlichen Fakultät, also als erträumter und dann wirklicher Arbeitsplatz für ihn, den Dozenten der Germanistik, bis der Bau an den Piaristenorden zurückgegeben wurde. Und bald als Unterschlupf für das neue Kaffeehaus, das Droste noch in diesem November eröffnen will. Der Name: „Három holló – Drei Raben”. So hieß das Stammcafé von Endre Ady. Der katholische Sauerländer und ausgebildete Lehrer unter der Ägide des Schulordens der Piaristen! Es gibt also noch eine Zukunft für die Liebe. Man kann nur Glück zu dem Unternehmen wünschen.

Wilhelm Droste, Ungarische Zustände : Ein Schauplatz erzählt Geschichte. Verlag: Rowohlt E-Book. Originalausgabe. Erscheinungstermin: 06.10.2017. 40 Seiten. 2,99 EUR. ISBN: 978-3-644-00078-0

Imre Kertész beschenkt die Akademie der Künste in Berlin mit seinem Archiv

Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin

35 000 Blatt an Entwürfen, Manuskripten, Briefen, Tagebüchern… Das Archiv des Literaturnobelpreisträgers und Holocaust-Überlebenden Imre Kertész hat seit dem 15. November 2012  in der Berliner Akademie der Künste seine Zuflucht gefunden, unweit des Brandenburger Tores –  und damit nur einen Steinwurf entfernt vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Kein Redner und kein Journalist ließ diesen Aspekt aus – welches Vertrauen des Verfolgten und welcher Auftrag an das Land der Verfolger! Und ob in den Kommentaren ausgesprochen oder nicht – dies wirft auch ein schiefes Licht auf die Heimatstadt des Unbehausten, auf Budapest. Im Jahre 2009 hat XING hier in diesem Weblog auf der Seite „Balkanisierung“ Kertész‘ kritische Haltung gegenüber Budapest und Ungarn dokumentiert und den kulturhistorischen Hintergrund des Verdikts ausgeleuchtet. Welche Schätze es aber in diesem Archiv zu heben gibt, macht eine kleine Fotostrecke deutlich, die von der Akademie der Künste zur Veröffentlichung frei gegeben wurde. Darin findet sich die erste Manuskriptseite aus dem „Roman eines Schicksalslosen“ – und zeigt zwei später wieder gestrichene Mottos, ungarische Übersetzungen eines  Zitats aus Lord Byrons „Don Juan“ sowie eines Satzes aus Franz Kafkas „Der Prozess“.

Die andere Seite

Péter Eszterházy, György Konrád, Claudio Magris (von links nach rechts)

Aus Anlass des XIX. Internationalen Buchfestivals in Budapest wurde am 19. April 2012 die Ausstellung „Widerreden – 50 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ im Budapester Millenáris eröffnet. Anwesend: drei Preisträger, Péter Eszterházy, György Konrád und Claudio Magris. (Foto: XING)

Claudio Magris, der Ehrengast des diesjährigen Festivals, ist vor allem durch sein Hauptwerk „Donau“ bekannt geworden. Aus Anlass der Verleihung des Budapest-Preises wurde er von der regierungsnahen Zeitung „Magyar Nemzet“ interviewt. Hier lesen Sie große Teile des Interviews in deutscher Übersetzung (Szabolcs Wekerle, Magyar Nemzet 28. April 2012, Seite 23):

„Herr Magris, lassen Sie uns Ihnen zuallererst  zu dem gerade verliehenen Budapest-Preis gratulieren! Was verbindet Sie mit der ungarischen Hauptstadt?”

„Ich fühle mich Budapest und Ungarn sehr stark verbunden. (…) Ungarisch war zum Beispiel die erste Sprache, in die ich übersetzt worden bin: Teile aus meinem Buch Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur erschienen hier zum ersten Mal in einer fremden Sprache. 1964 kam ich zum ersten Mal nach Budapest, dann ein Jahr später, aber richtig oft bin ich in den 70er Jahren hier gewesen. Deswegen kenne ich mich komischerweise besser in der Stadt von gestern aus als in der heutigen – ich bin jetzt wirklich etliche Jahre nicht hergekommen (…). Natürlich fällt mir der unglaubliche Wandel auf, der hier seit dem Systemwechsel vor sich ging, aber in die Menschen kann ich mich nicht in dem Maße hineindenken, wie es damals war.”

„Wie haben Sie das Budapest vor der Wende im Vergleich zu den Hauptstädten der Region empfunden?”

„Es gab einen unglaublichen Unterschied zu den übrigen sozialistischen Ländern – abgesehen natürlich von Jugoslawien, aber das war in vieler Hinsicht eine andere Welt. In Ungarn war nicht nur die Lebensqualität höher als, sagen wir, in Rumanien oder in der DDR: nirgendwo anders im sozialistischen Block wäre es vorstellbar gewesen, dass ich etwas schreibe, und es kann so, wie es ist, erscheinen. Daher war  für mich und meine Freunde, die ähnlich dachten, dieses Ungarn mit seinem Spätsozialismus ein wenig das Land der Hoffnung. Natürlich haben wir alle auf das Ende des Sozialismus als politisches System gewartet, trotzdem meinten wir in diesem System hier die Möglichkeit zu sehen, dass nach der Wende nicht automatisch das universale, normierte angelsächsische Modell zu Stande kommt, sondern irgendetwas anderes, das durch unsere Träume geisterte, was es wert gewesen wäre zu bewahren. Ich glaube, deshalb fühlte ich mich hier so wohl – in den übrigen osteuropäischen Ländern waren die negativen Energien viel, viel stärker.”

„Sie sind Italiener,  trotzdem schwärmen Sie für Mitteleuropa.”

„Das stimmt nicht. Ich schwärme nicht. Mein Interesse ist selbstverständlich. Meine Geburtsstadt Triest war Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, später kam es zu Italien. Diese meine Stadt kenne ich, ich verstehe ihre vielfältige Identität, ich weiß, was es heißt, wenn nur eine einzige Brücke uns mit der Nachbarwelt verbindet, die oft als Übergang genutzt wird, um unsere Lieben zu sehen, aber viel öfter, um uns von den anderen zu trennen. Aber man muss diese Anziehungskraft nicht übertreiben: Das ist meine Geschichte, aber deswegen interessiert mich die spanische, die französische oder sei es auch die karibische Literatur nicht weniger als die italienische oder mitteleuropäische. Weil ich als Mann geboren bin und nicht als Frau, beschäftige ich mich doch nicht ohne Ende mit den Fragen meines Daseins als Mann.”

„Sie sind 1939 geboren. Triest gehörte von 1382 bis 1918 zur Monarchie, 1918 wurde es italienisch, aber in Ihrer Kindheit, zwischen 1948 und 1954, wurde es zu einer Art Konfliktzone zwischen Jugoslawien, das Anspruch darauf erhob, und Italien, das es schließlich zurückgewinnen konnte. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?”

„Es gab einige tragische Momente, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Der erste spielte sich noch während des Krieges ab, als ich so vier , fünf Jahre alt war, die bestürzende Geschichte Krasznovs, der in Friaul, in Ostitalien, einen Kosakenstaat errichten wollte. Das habe ich in meiner Erzählung Mutmaßungen über einen Säbel geschildert. (Anmerkung XING: Näheres zu dieser Staatsidee „Kosakia“ auf einer Seite der Universität Innsbruck)

Aber die Geschichte der kleinen, isolierten Triester Widerstandsbewegung, die gegen Nazis und italienische Faschisten, aber auch gegen die mit slawischem Nationalismus durchtränkten jugoslawische Partisanen kämpfte, habe ich erst später wirklich verstanden. Dagegen erinnere ich mich genau an die Spannungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die eine Hälfte der Stadt unter amerikanischer, die andere Hälfte unter jugoslawischer Verwaltung stand. Meine Stadt war damals tatsächlich Niemandsland, das darauf wartete, dass man einen Gouverneur an die Spitze eines irgendwie gearteten Freistaats stellen würde, aber dazu hätte es einer Einigung der Siegermächte bedurft, was eigentlich nicht zu erhoffen war:  wer für die Russen akzeptabel war, kam für die Amerikaner nicht in Frage, und umgekehrt. Aus dieser Zeit ist mir noch ein sehr starker Eindruck geblieben, ein Bild, ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt, als ich mit einem Freund zur Grenze des jugoslawischen Sektors ging. Das war sehr nah zu unserer Wohnung, es war weniger weit voneinander entfernt als, sagen wir, zwei Mailänder Stadtviertel. Wir blickten hinüber durch den Stacheldraht, wir kannten das Stadtviertel gut, denn früher waren wir oft dort gewesen. Trotzdem war dort jenseits der Grenze eine geheimnisvolle, bedrohliche Welt, in die wir nicht hinüber gelangen konnten und die für mich irgendwie einen mystischen Osten verkörperte. Ich glaube, dort hat mich zum ersten Mal der Zusammenfall von Vertrautheit und Fremdheit berührt, dass etwas mich bedroht und zugleich anzieht. Damals konnte ich das für mich natürlich noch nicht so klar auf den Begriff bringen, aber wahrscheinlich habe ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal  diese Sehnsucht verspürt, die zum Prinzip meiner späteren literarischen Tätigkeit wurde, dass ich nämlich diese andere Seite kennenlernen und auf irgendeine Weise zurückerobern muss. Natürlich nicht in politischem, sondern in geistigem  Sinne.”

„(…) Im Vorwort zur ungarischen Ausgabe Ihres Hauptwerks mit dem Titel Donau von 1992 schreiben Sie darüber, für wie schädlich und scheinheilig Sie den Hochmut des Westens gegenüber den Anderen, sprich: gegenüber Osteuropa halten. Heutzutage glauben noch viele in Ungarn, dass dieser Hochmut weiterhin unverändert existiert.”

„Heute liegt es auf der Hand, dass dieser Hochmut nicht in erster Linie politische Wurzeln hatte, d. h. nicht gegen die Sowjetunion und den von ihr beherrschten Ostblock gerichtet war. Genau diese feindseligen Gefühle herrschen heute zwischen Italienern und Kroaten, zwischen Kroaten und Serben, zwischen Serben und Bulgaren, und so weiter. Der Westen hat immer den Osten als zweitrangig angesehen, aber für genauso unerträglich halte ich auch die an dem Wort Balkan klebenden Assoziationen. Schon Metternich ließ verlauten, jenseits des Wiener Rennwegs fange der Balkan an – und das hat er nicht als Lobeshymne gemeint. Später hörte ich in Deutschland, in dem von Wien ein paar hundert Kilometer westlich gelegenen Ulm genau dasselbe, wo man zu sagen pflegt, dass in Neu-Ulm der Balkan beginne – offensichtlich deshalb, weil sich in der Nachbarstadt mehr Einwanderer niedergelassen haben. Ich halte diese Furcht erregende, sture und aggressive Identitätssuche heute für die größte Gefahr, sie charakterisiert den größten Teil der europäischen Völker. Und dieser Zug zur Endogamie beschädigt nicht nur den Humanismus, verletzt nicht nur die Identität anderer Völker und anderer Menschen, sondern zerstört natürliche auch die Liebe zur eigenen Identität. Es ist nur natürlich, dass ich Triest mehr liebe als Debrecen, genau wie zu meinen Schulfreunden stärkere Bande bestehen als zu den Ihrigen. Das Unglück beginnt dort, wo sich dieses Gefühl mit Feindschaft gegen  die Anderen paart: Jeder Mensch liebt seine eigene Familie, aber seinen Lebensgefährten sucht man in einer anderen Familie. Wenn man nicht so handelt, führt es zur Blutschande, die Blutschande aber führt zum Idiotismus. Diese regressive Neigung besteht auch im politischen Sinne, und sie macht krank. Eine italienische politische Partei kam einmal darauf, dass man auch die Literatur nur auf regionaler Basis rezipieren dürfe. Würde das bedeuten, dass es nur in der Toskana erlaubt wäre, Dante zu lesen, und müsste ein Lehrer, der in einer lombardischen Schule Dantes Werke bespräche, ins Gefängnis? Dante hat von sich gesagt, er habe, während er das Wasser des Arno getrunken, gelernt, Florenz zu lieben. Aber er hat hinzugefügt: Für uns ist die Heimat wie das Meer für den Fisch. Das Meer ist ohne den Arno etwas Abstraktes. Der Arno ohne das Meer ist eine wahnsinnige Inzucht.”

„Am Anfang der Neunziger Jahre glaubten viele an die große europäische Völkerfreundschaft. Halten Sie es für vorstellbar, dass zum Beispiel Ungarn und Slowaken, Ungarn und Rumänen in in idyllischem Frieden miteinander leben?”

„Wenn nicht, dann ist es Selbstmord. Ich träume von einem europäischen Staat, in dem die kleineren europäischen Staaten verschwinden. Dafür gibt es keine gefühlsmäßigen, sondern einzig und allein praktische Gründe. Unsere Probleme heute sind überaus groß, und die Lösungen müssen deshalb großzügig sein. Lächerlich, dass zum Beispiel in Ungarn andere Einwanderungsgesetze gelten als in Italien; genauso lächerlich wäre es, wenn in Triest andere Gesetze herrschten als in Venedig. Wenn heute in Europa ein kleiner Staat kaputt geht, werden alle übrigen zusammenbrechen. Die Einheit Europas ist keine Frage der Brüderlichkeit – anders haben wir keine Chance.”

Zum Lesen empfohlen: Auf der Andenseite

Die Winter im Süden – leere Sommer

Rezeption eines verlassenen Hotels bei Malinska (Insel Krk)

Rezeption eines verlassenen Hotels bei Malinska (Insel Krk)

Lektüre des Romans von Norbert Gstrein: „Die Winter im Süden“ (2008). Schauplätze sind Zagreb und die dalmatinische Küste,  Buenos Aires und die Pampa während des eskalierenden Jugoslawien-Kriegs. Die Rezensenten hoben beim Erscheinen des Romans die existenzielle Leere der Hauptfiguren hervor: des „Alten“, eines renommiersüchtigen ehemaligen Ustascha-Kämpfers, der in den Krieg zurückzukehren sich anschickt, seiner von ihm für tot erklärten Tochter, die unglücklich mit einem Wiener Alt-68er und Kulturredakteur verheiratet ist, und eines abgehalfterten Polizisten: Diesem wurde am Wiener Westbahnhof vor seinen Augen die Kollegin und Geliebte erschossen. Ihm blieb ja gar nichts anderes übrig, als bei seiner kopflosen Selbstverfügung in den Urlaub nach Argentinien als Faktotum, Chauffeur und Leibwächter des Alten, nebenbei als Beischläfer von dessen jüngerer Ehefrau zu enden. „Die Winter im Süden sind schrecklich.“ Am Ende sind wir nur noch ein Gräberfeld mit toten Sätzen wie diesen. Die  entkernten Individuen erinnern an die ausgeweideten Interieurs der Hotelanlage etwas außerhalb von Malinska auf der Insel Krk, die ich im Sommer 2010 in Augenschein nehmen konnte: die großen Fensterscheiben zersplittert, die Glühlampen ausgeschraubt, die Kabel aus den Wänden gerissen, auf dem Steinboden Katzen- und Eulendreck, der leere Aufzugsschacht führte blind nach oben. Eine Rezeption, die nicht mehr auf Empfang war. Eigentum eines Staates, der nicht mehr existierte. Auch das steht im Roman: In den Hotels an der Adriaküste hausten die kroatischen Flüchtlinge aus Slawonien und der Krajna, die sich vor der jugoslawischen Armee hatten in Sicherheit bringen können. Eine der europäischen Kulturhauptstädte 2010 war Fünfkirchen, das ungarische Pécs: Es feierte sich als Tor zum Balkan.

Der Wanderfalke in der Straßenbahn

<a rel="license" href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/"><img alt="Creative Commons License" style="border-width:0" src="http://i.creativecommons.org/l/by-nc-sa/3.0/88x31.png" /></a><br />This work is licensed under a <a rel="license" href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/">Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 3.0 Unported License</a>.

Wanderfalke in der Straßenbahn Linie 2 (Foto: XING)

Öffentlich unterwegs zu sein ist das größere Abenteuer. Schnappschuss in der Straßenbahn Linie Nr. 2 – ein Falke auf der Faust eines Mitreisenden. Ein Gerfalke? Wahrscheinlich nicht.  Als Vogel, der in den Tundren Sibiriens, in Grönland und Alaska heimisch ist, dürfte es dem Gerfalken in den ungarischen Sommern zu heiß sein.  Auf Fachsimpeleien mit dem Eigner kann ich mich freilich nicht einlassen, dazu reicht mein Ungarisch nicht. Und „Wanderfalke“ passt auch besser zu „Wanderjahren“ im Titel dieses Blogs… Also ein Wanderfalke, auch dies ein Beizvogel.

Der Vogel trägt keine Haube. Aufmerksam scheint er die draußen vorbei fliegende Stadtlandschaft zu registrieren. Welcher Bilderstrom! „Entschuldigen Sie, darf ich ein Foto machen?“ Den Falken darf ich fotografieren, den Jäger nicht. Sehr reserviert, der Mann: entschlossene Miene, die Mundwinkel zeigen nach unten. Statuenhaft. Wie die markante Gestalt zu Füßen des Königs Matthias, links unten im Ensemble des Jagdbrunnens, zu finden im Burgpalast von Buda.

Mátyás kút

Sie soll  Galeotto Marzio (1427-1497) darstellen, den italienischen Chronisten des ungarischen Königs Matthias Corvinus (Hunyady Mátyás) , Humanist, Arzt und Astronom, der in Padua und Bologna sowie an der von Matthias gegründeten Universität Pressburg lehrte.  Man muss ihn sich als lebensfrohen und schwergewichtigen Menschen vorstellen. Vom Bildhauer wahrscheinlich sehr ins Asketische idealisiert, wirkt die Skulptur in ihrer Kühle und Strenge wie das Vorbild meines Gegenübers in der Straßenbahn. Oder besser: Bei diesem hier ist es eher Verschlossenheit als Strenge, obwohl die Beine – anders als bei der Galeotto-Skulptur – auseinander gestellt sind. Und hinter der kühlen Fassade ist der Eifer zu spüren, mit dem der Mann das Vorbild kopiert. Er wirkt wie gefrorenes Feuer. In den Augen lese ich: „Wir eine Kolonie? Niemals. Abhängig weder von Moskau noch von Brüssel. “ Angesichts von soviel Heroismus muss ich meinen Mut nun ordentlich zu einer Frage zusammenkratzen: „Sólyom ez a madár?“ – „Nem, héja.“ Also kein Falke, sondern ein Habicht.

Patchwork

Patchwork //// Ungarn-Nachrichten im Januar 2011.  Ein geneigter Leser schickt mir – auf anderem Wege, er ist kein Blogger – folgende Zeilen:

„Was Ungarn vernäht,
will ich nicht versäumen.“

Danke, T.F., das Wortspiel hilft, dem Wettkampf zwischen Nähmaschine und Schreibmaschine aus einer dadaistischen Ecke zuzuschauen.

In der Nacht, als Harry Mulisch starb

Im Nachtzug von Wien Westbahnhof nach Hamburg Altona. „Überall war heller Tag, nur war es Nacht, nein, mehr als Nacht.“ (Plinius, Epistulae, VI, 16) Dies ist das Motto des Romans „Das Attentat“ von Harry Mulisch. Ich teile das Viererabteil mit einer holländischen Familie – es sind erstaunlich junge Eltern, ihr Sohn ist bestimmt schon 16, 17. Sie sind aus Groningen. Der Junge wickelt sich schnell in seine Decke und dreht sich zur Abteilwand. Das Paar ist mehr auf Kommunikation gestimmt als er. Ich liebe Groningen, das erste Mal fuhr ich hin mit einem Ungarn, der beim Überqueren des Grenzflusses, der Ems, begeistert ausrief: Ah, das ist Óperencia, jedes ungarische Märchen fängt so an. Die Holländer, vielleicht sind es auch Westfriesen, aber ich mag nicht fragen, schauen mich mit großen Augen an. Ja, das ist die Märchenformel: Es war einmal, oder es war keinmal, wenn es überhaupt je gewesen ist, war es jenseits von Óperencia. Der ungarische Freund hatte mir erklärt, dass vor Jahrhunderten ungarische Kalvinisten gerne zum Theologiestudium an eine holländische Universität gegangen waren, „also jenseits der Ems“. Viel später ging mir auf, dass natürlich die Enns gemeint war, jener Fluss, der Nieder- von Oberösterreich trennt: „Ob der Enns“ wurde zu „Óperencia“ verballhornt. Das Jenseits liegt oft näher, als man denkt. Ich zeige das rororo-Bändchen her: „Ich habe einen Roman von Harry Mulisch dabei.“ – „Ah, ‚De Aanslag‘!“ sagt die Frau. „Dan kunt U nog eens niet slapen, dit is zo een spannend verhaal.“ Sie soll recht behalten. Von den Schaukelbewegungen des Liegewagens wird der Körper sanft in eine zunehmende Schlafbereitschaft gewiegt, der die Lektüre immer um genau eine Seite voraus ist. Ich folge den Lebensstationen Anton Steenwijks, dessen Familie in den letzten Kriegstagen, unversehens in eine Widerstandsaktion geraten, von den deutschen Besatzern ausgelöscht wird. Anton, damals 12 Jahre alt, begegnet später immer wieder Menschen, die auf die eine oder andere Weise in das „Attentat“ verwickelt sind und ihm immer mehr die Augen öffnen. Das ändert aber nichts an Antons Blindheit, ich möchte sagen: eschatologischen Blindheit. Die eigene Geschichte bleibt auf merkwürdige Art und Weise von ihm abgespalten. Kurz vor dem Einschlafen lese ich noch die für mich eindrücklichste Stelle des Romans. Bei der Schilderung des Begräbnisses eines Widerstandskämpfers, über 20 Jahre nach dem Krieg, heißt es: „Auf dem Friedhof hatte sich ein dichter Kreis um das Grab gebildet […] Die leise Unterhaltung in den hinteren Reihen verstummte erst, als die Witwe selbst das Wort ergriff, ihre Worte verloren sich jedoch in der Weite des Sommertages. Die Vögel, die über sie hinwegflogen, mußten sie, die in der weiten Polderlandschaft dicht gedrängt um dieses kleine, dunkle Loch in der Erde standen, für ein großes Auge halten, das zum Himmel starrte.“ [S.109] Nach der Ankunft in Hamburg höre ich im Radio, dass Harry Mulisch gestorben ist.