
Aus Anlass des XIX. Internationalen Buchfestivals in Budapest wurde am 19. April 2012 die Ausstellung „Widerreden – 50 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ im Budapester Millenáris eröffnet. Anwesend: drei Preisträger, Péter Eszterházy, György Konrád und Claudio Magris. (Foto: XING)
Claudio Magris, der Ehrengast des diesjährigen Festivals, ist vor allem durch sein Hauptwerk „Donau“ bekannt geworden. Aus Anlass der Verleihung des Budapest-Preises wurde er von der regierungsnahen Zeitung „Magyar Nemzet“ interviewt. Hier lesen Sie große Teile des Interviews in deutscher Übersetzung (Szabolcs Wekerle, Magyar Nemzet 28. April 2012, Seite 23):
„Herr Magris, lassen Sie uns Ihnen zuallererst zu dem gerade verliehenen Budapest-Preis gratulieren! Was verbindet Sie mit der ungarischen Hauptstadt?”
„Ich fühle mich Budapest und Ungarn sehr stark verbunden. (…) Ungarisch war zum Beispiel die erste Sprache, in die ich übersetzt worden bin: Teile aus meinem Buch Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur erschienen hier zum ersten Mal in einer fremden Sprache. 1964 kam ich zum ersten Mal nach Budapest, dann ein Jahr später, aber richtig oft bin ich in den 70er Jahren hier gewesen. Deswegen kenne ich mich komischerweise besser in der Stadt von gestern aus als in der heutigen – ich bin jetzt wirklich etliche Jahre nicht hergekommen (…). Natürlich fällt mir der unglaubliche Wandel auf, der hier seit dem Systemwechsel vor sich ging, aber in die Menschen kann ich mich nicht in dem Maße hineindenken, wie es damals war.”
„Wie haben Sie das Budapest vor der Wende im Vergleich zu den Hauptstädten der Region empfunden?”
„Es gab einen unglaublichen Unterschied zu den übrigen sozialistischen Ländern – abgesehen natürlich von Jugoslawien, aber das war in vieler Hinsicht eine andere Welt. In Ungarn war nicht nur die Lebensqualität höher als, sagen wir, in Rumanien oder in der DDR: nirgendwo anders im sozialistischen Block wäre es vorstellbar gewesen, dass ich etwas schreibe, und es kann so, wie es ist, erscheinen. Daher war für mich und meine Freunde, die ähnlich dachten, dieses Ungarn mit seinem Spätsozialismus ein wenig das Land der Hoffnung. Natürlich haben wir alle auf das Ende des Sozialismus als politisches System gewartet, trotzdem meinten wir in diesem System hier die Möglichkeit zu sehen, dass nach der Wende nicht automatisch das universale, normierte angelsächsische Modell zu Stande kommt, sondern irgendetwas anderes, das durch unsere Träume geisterte, was es wert gewesen wäre zu bewahren. Ich glaube, deshalb fühlte ich mich hier so wohl – in den übrigen osteuropäischen Ländern waren die negativen Energien viel, viel stärker.”
„Sie sind Italiener, trotzdem schwärmen Sie für Mitteleuropa.”
„Das stimmt nicht. Ich schwärme nicht. Mein Interesse ist selbstverständlich. Meine Geburtsstadt Triest war Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, später kam es zu Italien. Diese meine Stadt kenne ich, ich verstehe ihre vielfältige Identität, ich weiß, was es heißt, wenn nur eine einzige Brücke uns mit der Nachbarwelt verbindet, die oft als Übergang genutzt wird, um unsere Lieben zu sehen, aber viel öfter, um uns von den anderen zu trennen. Aber man muss diese Anziehungskraft nicht übertreiben: Das ist meine Geschichte, aber deswegen interessiert mich die spanische, die französische oder sei es auch die karibische Literatur nicht weniger als die italienische oder mitteleuropäische. Weil ich als Mann geboren bin und nicht als Frau, beschäftige ich mich doch nicht ohne Ende mit den Fragen meines Daseins als Mann.”
„Sie sind 1939 geboren. Triest gehörte von 1382 bis 1918 zur Monarchie, 1918 wurde es italienisch, aber in Ihrer Kindheit, zwischen 1948 und 1954, wurde es zu einer Art Konfliktzone zwischen Jugoslawien, das Anspruch darauf erhob, und Italien, das es schließlich zurückgewinnen konnte. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?”
„Es gab einige tragische Momente, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Der erste spielte sich noch während des Krieges ab, als ich so vier , fünf Jahre alt war, die bestürzende Geschichte Krasznovs, der in Friaul, in Ostitalien, einen Kosakenstaat errichten wollte. Das habe ich in meiner Erzählung Mutmaßungen über einen Säbel geschildert. (Anmerkung XING: Näheres zu dieser Staatsidee „Kosakia“ auf einer Seite der Universität Innsbruck)
Aber die Geschichte der kleinen, isolierten Triester Widerstandsbewegung, die gegen Nazis und italienische Faschisten, aber auch gegen die mit slawischem Nationalismus durchtränkten jugoslawische Partisanen kämpfte, habe ich erst später wirklich verstanden. Dagegen erinnere ich mich genau an die Spannungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die eine Hälfte der Stadt unter amerikanischer, die andere Hälfte unter jugoslawischer Verwaltung stand. Meine Stadt war damals tatsächlich Niemandsland, das darauf wartete, dass man einen Gouverneur an die Spitze eines irgendwie gearteten Freistaats stellen würde, aber dazu hätte es einer Einigung der Siegermächte bedurft, was eigentlich nicht zu erhoffen war: wer für die Russen akzeptabel war, kam für die Amerikaner nicht in Frage, und umgekehrt. Aus dieser Zeit ist mir noch ein sehr starker Eindruck geblieben, ein Bild, ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt, als ich mit einem Freund zur Grenze des jugoslawischen Sektors ging. Das war sehr nah zu unserer Wohnung, es war weniger weit voneinander entfernt als, sagen wir, zwei Mailänder Stadtviertel. Wir blickten hinüber durch den Stacheldraht, wir kannten das Stadtviertel gut, denn früher waren wir oft dort gewesen. Trotzdem war dort jenseits der Grenze eine geheimnisvolle, bedrohliche Welt, in die wir nicht hinüber gelangen konnten und die für mich irgendwie einen mystischen Osten verkörperte. Ich glaube, dort hat mich zum ersten Mal der Zusammenfall von Vertrautheit und Fremdheit berührt, dass etwas mich bedroht und zugleich anzieht. Damals konnte ich das für mich natürlich noch nicht so klar auf den Begriff bringen, aber wahrscheinlich habe ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal diese Sehnsucht verspürt, die zum Prinzip meiner späteren literarischen Tätigkeit wurde, dass ich nämlich diese andere Seite kennenlernen und auf irgendeine Weise zurückerobern muss. Natürlich nicht in politischem, sondern in geistigem Sinne.”
„(…) Im Vorwort zur ungarischen Ausgabe Ihres Hauptwerks mit dem Titel Donau von 1992 schreiben Sie darüber, für wie schädlich und scheinheilig Sie den Hochmut des Westens gegenüber den Anderen, sprich: gegenüber Osteuropa halten. Heutzutage glauben noch viele in Ungarn, dass dieser Hochmut weiterhin unverändert existiert.”
„Heute liegt es auf der Hand, dass dieser Hochmut nicht in erster Linie politische Wurzeln hatte, d. h. nicht gegen die Sowjetunion und den von ihr beherrschten Ostblock gerichtet war. Genau diese feindseligen Gefühle herrschen heute zwischen Italienern und Kroaten, zwischen Kroaten und Serben, zwischen Serben und Bulgaren, und so weiter. Der Westen hat immer den Osten als zweitrangig angesehen, aber für genauso unerträglich halte ich auch die an dem Wort Balkan klebenden Assoziationen. Schon Metternich ließ verlauten, jenseits des Wiener Rennwegs fange der Balkan an – und das hat er nicht als Lobeshymne gemeint. Später hörte ich in Deutschland, in dem von Wien ein paar hundert Kilometer westlich gelegenen Ulm genau dasselbe, wo man zu sagen pflegt, dass in Neu-Ulm der Balkan beginne – offensichtlich deshalb, weil sich in der Nachbarstadt mehr Einwanderer niedergelassen haben. Ich halte diese Furcht erregende, sture und aggressive Identitätssuche heute für die größte Gefahr, sie charakterisiert den größten Teil der europäischen Völker. Und dieser Zug zur Endogamie beschädigt nicht nur den Humanismus, verletzt nicht nur die Identität anderer Völker und anderer Menschen, sondern zerstört natürliche auch die Liebe zur eigenen Identität. Es ist nur natürlich, dass ich Triest mehr liebe als Debrecen, genau wie zu meinen Schulfreunden stärkere Bande bestehen als zu den Ihrigen. Das Unglück beginnt dort, wo sich dieses Gefühl mit Feindschaft gegen die Anderen paart: Jeder Mensch liebt seine eigene Familie, aber seinen Lebensgefährten sucht man in einer anderen Familie. Wenn man nicht so handelt, führt es zur Blutschande, die Blutschande aber führt zum Idiotismus. Diese regressive Neigung besteht auch im politischen Sinne, und sie macht krank. Eine italienische politische Partei kam einmal darauf, dass man auch die Literatur nur auf regionaler Basis rezipieren dürfe. Würde das bedeuten, dass es nur in der Toskana erlaubt wäre, Dante zu lesen, und müsste ein Lehrer, der in einer lombardischen Schule Dantes Werke bespräche, ins Gefängnis? Dante hat von sich gesagt, er habe, während er das Wasser des Arno getrunken, gelernt, Florenz zu lieben. Aber er hat hinzugefügt: Für uns ist die Heimat wie das Meer für den Fisch. Das Meer ist ohne den Arno etwas Abstraktes. Der Arno ohne das Meer ist eine wahnsinnige Inzucht.”
„Am Anfang der Neunziger Jahre glaubten viele an die große europäische Völkerfreundschaft. Halten Sie es für vorstellbar, dass zum Beispiel Ungarn und Slowaken, Ungarn und Rumänen in in idyllischem Frieden miteinander leben?”
„Wenn nicht, dann ist es Selbstmord. Ich träume von einem europäischen Staat, in dem die kleineren europäischen Staaten verschwinden. Dafür gibt es keine gefühlsmäßigen, sondern einzig und allein praktische Gründe. Unsere Probleme heute sind überaus groß, und die Lösungen müssen deshalb großzügig sein. Lächerlich, dass zum Beispiel in Ungarn andere Einwanderungsgesetze gelten als in Italien; genauso lächerlich wäre es, wenn in Triest andere Gesetze herrschten als in Venedig. Wenn heute in Europa ein kleiner Staat kaputt geht, werden alle übrigen zusammenbrechen. Die Einheit Europas ist keine Frage der Brüderlichkeit – anders haben wir keine Chance.”
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