Wieder gelesen: Krieg und Frieden #2

Pierre nach seinem Auftritt im Hause Anna Pawlownas, bei dem er Bonaparte fast schon wie Heinrich Heine als Hüter der Revolution und berittenen Weltgeist verteidigt hatte, nun im Gespräch unter vier Augen. Seinem Freund, Fürst Andrej, antwortet er auf die Frage, ob er sich schon bei der Gardekavallerie gemeldet habe: „Wir haben jetzt Krieg gegen Napoleon. Wenn das ein Kampf für die Freiheit wäre, dann könnte ich es verstehen und träte als erster in den Kriegsdienst. Aber England und Österreich gegen den größten Menschen auf der Welt zu helfen… nein, das ist nicht schön.“ Fürst Andrej, befremdet ob dieser Naivität: „‚Wenn alle Menschen nur nach ihrer Überzeugung kämpften, dann gäbe es keinen Krieg‘, sagte er. ‚Das wäre ja gerade sehr schön‘, entgegnete Pierre. Fürst Andrej lächelte. ‚Schon möglich, daß es schön wäre, aber das wird nie geschehen.‘ ‚Na, warum gehen Sie denn in den Krieg?‘ fragte Pierre. ‚Weswegen? Man muß eben. Außerdem gehe ich…‘ Er hielt inne. ‚Ich gehe deshalb, weil das Leben, das ich hier führe, weil dieses Leben – mir nicht paßt.'“

Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Erster Teil, Kapitel 6. Übersetzung Marianne Kegel. München 1956.

Der Koloss. Francisco de Goya zugeschrieben.

Wieder gelesen: Krieg und Frieden #1

Ein Monster bedroht Europa, ein Mörder, ein Bösewicht. Anna Pawlowna Scherer hustet und behauptet, die Grippe zu haben. >>> Sprung ins Jetzt: Wie, nicht Corona? Nein, Grippe<<< Ein Modewort, benutzt nur in den höchsten Kreisen. Ihre Einladung zur Abendgesellschaft wird man trotzdem nicht ausschlagen, ihr, der Vertrauten der Maria Fjodorowna, der höchsten Frau, Gattin des Zaren. Nicht nur die Einladungskarte ist französisch, auch die Konversation mit dem Gast, der vor den anderen kommt, um früher gehen zu können, ist mit französischen Floskeln durchsetzt. „Eh bien, mon prince.” Der Fürst soll bestätigen, daß es zum Krieg kommt, und nicht „alle Schandtaten und Grausamkeiten dieses Antichristen in Schutz nehmen.” Der Fürst demonstriert Kälte und Langeweile, ein scharfer Kontrast zum gespielten Enthusiasmus der Palowna. Fürst Wassilij, in lässigem Ton: „Was soll ich sagen?” Berater, Analysten, Strategen, wer auch immer, „man ist zu der Ansicht gelangt, dass Bonaparte seine Schiffe hinter sich verbrannt hat” >>> Sprung ins 21. Jahrhundert: Muß man ihm dann nicht Brücken bauen? Ihn vom Baum herunterholen, auf den er geklettert ist? Wer holt den bloß aus dieser Nummer wieder heraus? <<< „und ich glaube, wir sind im Begriff, die unsrigen ebenfalls zu verbrennen.” Machinationen, Kabinettstückchen. Die Palowna kommt in Fahrt. Er, Fürst Wassilij, soll nicht mit Österreich kommen. „Österreich wollte den Krieg niemals und will ihn auch jetzt nicht. Es verrät uns. Rußland allein muß der Retter Europas werden. Unser kaiserlicher Wohltäter kennt seine Berufung und wird ihr treu bleiben.” England versteht das nicht. Krämerseelen. Preußen? Hat schon klein beigegeben, „hat erklärt, Bonaparte sei unbesiegbar, ganz Europa könne nichts gegen ihn ausrichten…” >>> Fall ins Heute: Halt, Stopp! In welchem Monumentalfilm bin ich hier eigentlich? <<< „Cette fameuse neutralité prussienne… Ich setze all mein Vertrauen nur auf Gott und auf die hohe Bestimmung unseres lieben Kaisers. Er wird Europa retten!…”

>>> Und dann, der geniale Tolstoi, bricht das Pathos seiner Figur: „Sie hielt plötzlich inne und lächelte spöttisch über ihre eigene Erregung.” <<<

Zitate:

Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Übersetzung Marianne Kegel. München 1956.