Der letzte Post vor einer Woche begann mit dem Zitat „Wir alle sind Insulaner.“ Nöö, stimmt nicht. „Kein Klang der aufgeregten Zeit / drang noch in diese Einsamkeit.“ – das Verspaar, mit dem Theodor Storm sein Gedicht „Abseits“ ausklingen lässt, ist nicht mehr als ein frommer Wunsch zum Sonntag. Nach dem Weihnachtsoratorium trinken wir noch etwas an der Bar, im Foyer der Konzerthalle. Das erlaubt es uns, die Masken vor dem Gesicht wegzunehmen, in die wir vorhin noch stumm unser „Jauchzet, frohlocket“ hinein geatmet haben. Das Gespräch kommt auf die neuen europäischen Kulturhauptstädte des Jahres 2022. Der Freund empört sich darüber, dass in der „Tagesschau“ Novi Sad als „K. u. K.-Stadt“ apostrophiert worden sei. „Das weiß doch jeder, dass Újvidék eine ungarische Stadt ist.“ Ich gebe zu, dass mein Wissen nicht ausreicht, um die Empörung zu teilen, werfe aber noch ein, dass der deutsche Name von Нови Сад „Neusatz“ lautet. Später am Abend kommt über WhatsApp von dem Freund noch ein Ausschnitt aus der der deutschen Wikipedia. Alle Namen gehen auf das Patent Maria Theresias vom 1. Januar 1748 zurück. In ihrer Eigenschaft als ungarische Königin verlieh sie der Siedlung die Rechte einer königlichen Freistadt und nannte sie neulateinisch „Neoplanta“. Nach der Entvölkerung durch die Türkenkriege hatten sich hauptsächlich Südslawen im Schatten der K. u. K.-Garnison angesiedelt, getrennt nach Konfession: in und unterhalb der Festung Peterwardein auf dem rechten Donau-Ufer durften nur Katholiken wohnen. Rund um den Brückenkopf auf dem linken Ufer entstand die Ratzenstadt (dt. Ratz, ung. Rác = Serbe) mit serbisch-orthodoxer Bevölkerung. Auf diesem Hintergrund erscheint mir die Bezeichnung „K. u. K.-Stadt“ durch die „Tagesschau“-Redaktion in aller Kürze ein gelungener Versuch, den Kopf aus der Schlinge der identitären Zuordnungen zu ziehen. Wir sind eben alle keine Insulaner.
Insulaner
Der Insulaner #1
„Wir alle sind Insulaner.“ Der letzte Satz auf Seite 241. Diese Lektüre passt in unsere Zeit. Zwei Wochen vor Weihnachten, in einem Anfall von Regression, las ich noch etwas anderes. Drei Jugendromane von Enid Blyton, ich weiß nicht zum wievielten Mal, darunter „Die Insel der Abenteuer“. In allen dreien, auch in der „Burg“ und in dem „Tal der Abenteuer“, geht es vor allem darum, den Zugang zu einem scheinbar hermetisch abgeschlossenen Raum zu finden. Die „Insel“ ist von heftig umbrandeten Klippen umgeben, und es braucht einen gewieften Skipper, um die Lücke zu passieren. Das Bergwerk auf der Insel ist aber auch durch einen Stollen unter dem Meeresboden erreichbar. Den abwärts führenden Treppengang dorthin verschließt eine Kellertür, die hinter gestapelten Kisten verborgen ist.
Es wirkt wie ein bedeutsamer Zufall, dass ich danach das Buch von Gavin Francis geschenkt bekam. Es war aber bedachtsam gewählt. Die Tochter hatte es im Gepäck. Sie kam von Berlin herüber und unterbrach die Selbstisolation ihrer Eltern. Das ungarische Wort dafür, elszigetelés, bewahrt in seinem Stamm noch die Herkunft von sziget, die Insel. Ausgesetzt wie Alexander Selkirk, interniert wie Napoleon auf Elba sind wir freilich nicht. Aber wir wägen Risiko und Ertrag ab und verzichten deshalb auf manche aushäusige Aktivität.

Das Manuskript, so der Autor im Vorwort, war seit fünf Monaten fertig, als die COVID19-Pandemie ausbrach. Für ihn ist die Leidenschaft, alte Inselkarten (oder die Kopien davon) zusammenzutragen, Ausdruck seiner individuellen Biographie. Phasen von Vernetzung, Kooperation und Unrast in den Großstädten wechseln ab mit dem Rückzug auf eine Insel und der Reduktion der sozialen Kontakte. In einer oft abweisenden natürlichen Umgebung kommt er zur Ruhe.
Die Kunst besteht darin, die Balance zu halten. Selbstfindung gelingt weder hier noch dort allein, sondern in der Bewegung. Kein Sprung von Insel zu Insel, sondern der Lebensdrift anheimgegeben. So treibt der Gedankengang von Zitat zu Zitat, von Reminiszenz zu Reminiszenz, und oft kehrt er zu einer Impression oder Erkenntnis zurück, diese noch tiefer auslotend. Die Textstruktur gleicht deshalb selbst Inselgruppen oder Archipelen, ja, fast scheinen die Absätze dem Narrativ von schwimmenden Inseln zu entsprechen, die einmal kartographisch erfasst, von späteren Seefahrern nicht mehr gefunden werden. Ein anderer Ausdruck für Intertextualität.
Statt an Plinius‘ magischen schwimmenden Inseln war Annie Dillard eher an echten schwimmenden Inseln interessiert, an dahingleitenden Mangroven-Verbünden, die sie in Florida und den Gewässern rings um die Galapagosinseln beobachtet hatte. „Sie treibt taumelnd und haltlos vor dem Wind,“ schrieb sie über eine Mangroveninsel. „Wahrscheinlich wird sie über den fremden Ozean driften, sich nähren von Tod und Wachstum, auf ihrem Weg provisorischen Boden einfangen, mit Krabben zwischen den Zehen und Seeschwalben im Haar.“
Annie Dillard, Teaching a Stone to Talk, Edinburgh: Canongate 2016. Zitiert nach Gavin Francis, Inseln, 238.
Das gedruckte Buch enthält viele Zitate und Reproduktionen von historischen Karten. Die topographischen Angaben lassen sich manchmal leider auch mit der Lupe nicht lesen; vielleicht sind sie auf dem Bildschirm, wenn sie im E-Book angezoomt werden, besser zu entziffern.
Gavin Francis, Inseln : Die Kartierung einer Sehnsucht. Köln: Dumont 2021 <Island Dreams. Mapping an Obsession. Edinburg: Cannongate 2020. Aus dem Englischen von Sofia Blind>.