Auf der Andenseite

Der Kondor, stolzer Vogel – im Ohr hat man unweigerlich die Indioflöte und den mehrfachen Aufschwung der Melodie. Jetzt auch real in dieser Stadt, keine Fußgängerzone in Europa ohne Indio-Musik. Die Maschinen von Lima nach Cuzco – natürlich auch zu den übrigen Zielen auf der anderen Seite – fliegen immer sehr früh morgens, um die Aufwinde, die vom Pazifik kommen, zu nutzen und sich nicht den landseitigen Abwinden später am Tag entgegenstemmen zu müssen. Machu Pichu – wenn man es aus großer Höhe anschauen würde – hat die Umrisse eines riesigen Vogels. Ich bin aber gar nicht dort, sondern hier in Budapest, in der Endstation der kleinen Untergrundbahn. Auf der Andenseite bin ich jetzt nur, weil Kriemhild immer die Silben verschluckt, wenn sie „auf der anderen Seite“ sagen will, und das kommt oft vor. Kriemhild ist die deutsche Version von Ildikó. Machu und Pichu – jedenfalls wie ich es ausgesprochen gehört habe, mit diesem „tsch“ – hätten bei lascher Aussprache des Endvokals im Ungarischen auch so ihre Anklänge, anstößige dazu. Wenn Kriemhild flucht, dann flucht sie auf das Geschlecht der Mutter, und das tut sie wie ein Kutscher, also machomäßig, was auch dazu passt, wie sie raucht und Schnaps trinkt. Weder Weibchen noch Emanze, also ganz auf der Andenseite. Die kleine U-Bahn fährt im Zwei-Minuten-Takt, es gibt wenig Zeit, sich umzuschauen, außer man nimmt den übernächsten Zug. Zur Hundertjahrfeier hat man die Stationen wieder hergerichtet, die alten Kacheln ergänzt und aufgefrischt, die gusseisernen Träger neu gestrichen, und ein paar Vitrinen aufgestellt, in denen Bezüge zum Pester Leben der vorletzten Jahrhundertwende hergestellt werden. Zum Beispiel hier die Plakatkunst. Und weil ich mir Zeit genommen habe, mache ich eine Entdeckung.

Zusendung aus Ulanbataar

Die Kollegin aus Ulanbataar (Mongolei) sendet zu Weihnachten ein Gedicht von Galsan Tschinag:

Wie ich Deutsch lernte

Von einem Ohr, das achtzehn Winter verhärtet haben,
wollen sich die wildfremden Bezeichnungen nicht einfangen lassen.
Sie sind scheuer als die Wildpferde in den Mongolensteppen.
Vor allem die Substantive ähneln verteufelt den windgeilen Stuten,
die an der Spitze der Herde hin und hertänzeln.
Jede hat so etwas wie ein Fohlen bei sich: den Artikel.
Und ein Fohlen, so muss man wissen ist schlüpfrig wie ein Fisch:
Das Lasso bleibt zehnmal schwieriger an ihm hängen
als an einer eckigen und kantigen Stute.
Nicht umsonst heißt es wohl:
Fängst du ein Fohlen auch erst mit dem dritten Wurf,
so halte dich schon für einen Lassokönner.
Ich bin nie ein Lassokönner gewesen, und es sah nicht so aus,
als ob die fremde Wortherde einen aus mir machen würde.