In der Nacht, als Harry Mulisch starb

Im Nachtzug von Wien Westbahnhof nach Hamburg Altona. „Überall war heller Tag, nur war es Nacht, nein, mehr als Nacht.“ (Plinius, Epistulae, VI, 16) Dies ist das Motto des Romans „Das Attentat“ von Harry Mulisch. Ich teile das Viererabteil mit einer holländischen Familie – es sind erstaunlich junge Eltern, ihr Sohn ist bestimmt schon 16, 17. Sie sind aus Groningen. Der Junge wickelt sich schnell in seine Decke und dreht sich zur Abteilwand. Das Paar ist mehr auf Kommunikation gestimmt als er. Ich liebe Groningen, das erste Mal fuhr ich hin mit einem Ungarn, der beim Überqueren des Grenzflusses, der Ems, begeistert ausrief: Ah, das ist Óperencia, jedes ungarische Märchen fängt so an. Die Holländer, vielleicht sind es auch Westfriesen, aber ich mag nicht fragen, schauen mich mit großen Augen an. Ja, das ist die Märchenformel: Es war einmal, oder es war keinmal, wenn es überhaupt je gewesen ist, war es jenseits von Óperencia. Der ungarische Freund hatte mir erklärt, dass vor Jahrhunderten ungarische Kalvinisten gerne zum Theologiestudium an eine holländische Universität gegangen waren, „also jenseits der Ems“. Viel später ging mir auf, dass natürlich die Enns gemeint war, jener Fluss, der Nieder- von Oberösterreich trennt: „Ob der Enns“ wurde zu „Óperencia“ verballhornt. Das Jenseits liegt oft näher, als man denkt. Ich zeige das rororo-Bändchen her: „Ich habe einen Roman von Harry Mulisch dabei.“ – „Ah, ‚De Aanslag‘!“ sagt die Frau. „Dan kunt U nog eens niet slapen, dit is zo een spannend verhaal.“ Sie soll recht behalten. Von den Schaukelbewegungen des Liegewagens wird der Körper sanft in eine zunehmende Schlafbereitschaft gewiegt, der die Lektüre immer um genau eine Seite voraus ist. Ich folge den Lebensstationen Anton Steenwijks, dessen Familie in den letzten Kriegstagen, unversehens in eine Widerstandsaktion geraten, von den deutschen Besatzern ausgelöscht wird. Anton, damals 12 Jahre alt, begegnet später immer wieder Menschen, die auf die eine oder andere Weise in das „Attentat“ verwickelt sind und ihm immer mehr die Augen öffnen. Das ändert aber nichts an Antons Blindheit, ich möchte sagen: eschatologischen Blindheit. Die eigene Geschichte bleibt auf merkwürdige Art und Weise von ihm abgespalten. Kurz vor dem Einschlafen lese ich noch die für mich eindrücklichste Stelle des Romans. Bei der Schilderung des Begräbnisses eines Widerstandskämpfers, über 20 Jahre nach dem Krieg, heißt es: „Auf dem Friedhof hatte sich ein dichter Kreis um das Grab gebildet […] Die leise Unterhaltung in den hinteren Reihen verstummte erst, als die Witwe selbst das Wort ergriff, ihre Worte verloren sich jedoch in der Weite des Sommertages. Die Vögel, die über sie hinwegflogen, mußten sie, die in der weiten Polderlandschaft dicht gedrängt um dieses kleine, dunkle Loch in der Erde standen, für ein großes Auge halten, das zum Himmel starrte.“ [S.109] Nach der Ankunft in Hamburg höre ich im Radio, dass Harry Mulisch gestorben ist.