Vor und während Corona : Tage der deutschen Einheit im Várkért Bazár und in Zugliget

Am 3. Oktober 2019 lud die Deutsche Botschaft in Budapest zum letzten Mal vor Corona zur Feier der deutschen Einheit ein. Dieses Mal im Várkért Bazár. Während der letzten drei Jahrzehnte war der Tag immer mit einer nahezu rituellen Danksagung an das Gastland verbunden gewesen, das durch hochrangige Politiker vertreten war. Den Tenor hatte Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinem Besuch im Dezember 1989 vorgegeben. Vor Studenten der Eötvös Lóránt Universität (ELTE) in Budapest hatte er den ewigen Dank des deutschen Volkes beschworen: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer geschlagen.“ Für den aufmerksamen Beobachter war nun (2019, als ungarische Politiker durch Abwesenheit glänzten) die Absicht spürbar, die damaligen Ereignisse aus der aktuellen Politik herauszuhalten und sie mit einem Augenzwinkern zu historisieren. Eine Ausstellung mit Objekten aus DDR-Produktion modellierten ein Wohnzimmer. Mit den Gegenständen, die in den Wohnungen zurückgelassen wurden.

Oder einen Camping-Platz. Für Zeitzeugen mögen Erinnerungen an die Zeltlager in Zugliget oder am Balaton aufgestiegen sein, in denen die Ausreisewilligen aus der DDR eine große Hilfsbereitschaft der ungarischen Menschen erfuhren. Und dann talkte Kai Pflaume mit dem Botschafter. Eine Schuhplattler-Gruppe rhythmisierte ihre Tänze mit dem Öffnen und Schließen von Werkzeugkästen und Biergartenstühlen. Die Gäste konnten sich am Steuer eines Trabants fotografieren lassen und die Polaroids mit nach Hause nehmen.

2020 am 3. Oktober fand dann coronabedingt keine offizielle Feier mehr statt. Eine Wanderung durch die Budaer Berge führte meine Frau und mich nach Zugliget zur Kirchengemeinde von Pfarrer Kozma, wo die Malteser die Betreuung der DDR-Bürger, die ausreisen wollten, übernommen hatten. Im Garten zwei Betonteile der Berliner Mauer und ein mit Schlagzeilen bedruckter Trabi – Monumente der jüngsten Geschichte.

Stand einfach an der Straße in Zugliget herum, ein restaurierter ZiL 110, die sowjetische Staatskarosse. Nur 2200 Stück waren davon produziert worden. Auf dem polierten Lack die Schalen von Rosskastanien wie kleine Igel.

Nichts für morgen. Nichts für gestern. Alles für heute.

Der Screenshot von heute morgen zeigt – zufällig generiert – rechts neben dem Foto des ungarischen Ministerpräsidenten die Einspielung des Dada-Werbeblockers, den ich installiert habe (Quelle: Dada-data.net):  „Nichts für morgen. Nichts für gestern. Alles für heute.“ Das passt. Es passt zum Regierungshandeln in Ungarn.

 

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Eine beispiellose Angstkampagne, mit islamophoben Parolen und Anleihen bei Samuel Huntigtons „Kampf der Kulturen“ („Europa ist Athen, nicht Persien. Europa ist Rom, nicht Karthago.“). Seit Wochen die massive Präsenz großformatiger Plakate im öffentlichen Raum („Wussten Sie schon…?“) – die Mini-Plakate in den kleineren Ortschaften, meist in der Nähe der Dorfkirche, nicht zu vergessen. Roadshows aller führenden Regierungspolitiker, Fernsehnachrichten, die sich über 45 Minuten lang mit nichts anderem aufhalten, als Flüchtlinge und Migranten in einen Topf zu rühren, noch am Sonntag Nachmittag eine Welle von SMS-Nachrichten , als sich schon abzeichnete, dass die Wahlbeteiligung unter dem Quorum von 50 % bleiben würde: alles Schnee von gestern. 40 Millionen EURO verbrannt. Mit welchem Ergebnis?

Laut amtlichem Endergebnis lag die Wahlbeteiligung bei 40,41%. Dies rechtfertigt die Aussage, das Referendum sei ungültig. So what? Wie beim Brexit liegt die Entscheidung beim Parlament. Die Regierung wird die siebte Grundgesetzänderung einbringen und damit festschreiben, dass nur mit  Zustimmung des Parlaments Flüchtlinge auf ungarischem Territorium angesiedelt werden können. Zwar ist die komfortable Zweidrittelmehrheit des FIDESZ flöten gegangen, aber JOBBIK (die Partei der noch besseren Ungarn) wird zustimmen. Handelt es sich doch um einen eigenen Vorschlag. Genüsslich kommentiert Gábor Vona, der Parteivorsitzende, dass die Regierung dieses Ergebnis auch hätte billiger haben können, und fordert zudem Viktor Orbán zum Rücktritt auf. Den Kommentaren aus Westeuropa, die Orbáns breite Brust in Brüssel auf ein Normalmaß geschrumpft sehen, muss eine bittere Erkenntnis aus den Wahlergebnissen entgegen gehalten werden. 98,33% der gültigen Stimmen entfielen auf das „Nein“, das die Regierung empfohlen hatte. (Die Frage hatte gelautet: „Wollen Sie, dass die Europäische Union Ungarn die verpflichtende Ansiedlung von nicht ungarischen Staatsbürgern auch ohne Mitwirkung des Parlaments vorschreiben kann?“)

Es bleibt festzuhalten: Sollte es überhaupt – über das verschwindend geringe „Ja“-Votum hinaus – ungarische Befürworter einer durch Mehrheitsbeschluss des Europäischen Rats verbindlich gemachten Übernahme-Quote geben, so sind sie in der Mehrheit zu Hause geblieben. Dazu hatte die zersplitterte linke Opposition ja auch aufgerufen. Jetzt wollen diese drei bis vier weniger als 10-Prozent-Parteien daraus die Götterdämmerung Orbáns ableiten. Aber niemand – noch einmal: niemand – hat sich für ein „Ja“ stark gemacht. Die Wahlenthaltung als ein Zeichen der Hoffnung zu nehmen, das Aufrühren xenophobischer Stimmungen sei am ethischen Korsett der meisten Wahlbürger abgeprallt, ist blauäugig. Viktor Orbán ist kein Hänfling. Innenpolitisch geht er gestärkt aus dem Referendum hervor. Europapolitisch sieht er sich im Mainstream, den die von der PC (political correctness) geblendeten Eliten in ihren eigenen Ländern nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Die Kräfte, die sich einer vertieften Union mit mehr und mächtigeren gemeinsamen Institutionen verschrieben haben, sind geschwächt. Auffassungen, die ein starkes Europa nur in einem Bündnis aus starken Nationalstaaten, zum gegenseitigen Vorteil, sehen wollen, werden bestätigt.

Einzig die „Partei des zweischwänzigen Hundes“ hatte zur Abgabe einer ungültigen Stimme aufgerufen. Anhänger posteten auf Facebook ihren Stimmzettel, auf dem sie gemäß Aufruf mit zwei Kreuzen bei „Ja“ und bei „Nein“ die Überflüssigkeit des Referendums markierten. Diese in Pressekommentaren als „Satire“- oder „Spaß“-Partei apostrophierte Gruppierung hatte zudem in einer intelligenten, allerdings beschränkten, weil aus privaten Spenden finanzierten Plakatkampagne die Absurdität mancher Regierungsparole bloß gestellt: „Wussten Sie schon? In Syrien herrscht Krieg.“ Nicht nur der Parteiname ist DADA, auch die Aktivitäten verdienen diesen Ehrentitel. Deshalb von dieser Stelle aus einen Glückwunsch zu den 223 254 ungültigen Stimmen – 6, 27 % ! Im Detail: 11,8 % in Budapest, 7,3 % im Komitat Csongrád, 6, 7 % im Komitat Pest. (Quelle: index.hu)

Igen: Ja / Nem: Nein Fussatok, bolondok : Lauft, ihr Narren!

Igen: Ja / Nem: Nein
Fussatok, bolondok : Lauft, ihr Narren!

 

Schöpfungsgasse 2 – 36 (Südbahnhof Budapest)

Budapest I. Bezirk. Christinenstadt. Schöpfungsgasse. Die richtige ungarische Entsprechung für „Schöpfung“ wäre eigentlich „teremtés“. Gegenüber der Blutwiese (vérmező) stand bis 1936 ein Haus mit einem Relief über dem Eingang, das den Schöpfer des Weltalls bei der Arbeit zeigte. Den Begriff übersetzte man etwas schief in „alkotás“ (Werk, Schöpfung, aber eher von Menschenhand). Das Haus wurde 1775 von der deutschen Familie Falk erbaut und kam 1830 in den Besitz des Rittmeisters Heinrich. Dieser ließ im Garten den ersten Artesischen Brunnen Ungarns bohren. In 150 Meter Tiefe stieß man auf Trinkwasser, dieses erreichte durch eigenen Druck allerdings nur einen Wasserstand von 20 Meter unter der Erdoberfläche und musste mit anderer Brunnentechnik gefördert werden. Das bedeutete für die Anwohner des Viertels eine große Erleichterung – der Zugang zur Donau war durch den Burgberg erschwert, und die Quellen der Budaer Berge waren weit. Durch den Bau des Eisenbahntunnels 1857 und des Südbahnhofs 1861 wurde das Gebiet verkehrsmäßig besser angebunden. In heute leider heruntergekommenen Zustand, diffamiert als „Betonbestie am Fuß des Neureichen-Hügels„, repräsentiert der Südbahnhof ein gelungenes Stück moderner Architektur in Budapest.

Südbahnhof Budapest (Detail)

Südbahnhof Budapest (Detail)

Einer städtebaulichen Mode der 60er und 70er Jahre folgend, ist der Fußgängerbereich eine Ebene tiefer gelegt. Hier findet man heute noch eine schöne Skulptur aus Beton und Zsolnaer Porzellan des ungarischen Meisters der Op-Art: Victor Vasarely.

 

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Was die Katze hereinschleppte

Halloween-Menü: Vorspeise "Fingerfood"

Halloween-Menü: Vorspeise „Fingerfood“

„Was die Katze hereinschleppte“ – exemplarischer Titel einer Sammlung mit Erzählungen von Patricia Highsmith. Der Einbruch des Schrecklichen und Phantastischen in die Alltagswelt, der Horror, setzte immer schon die Vorstellung von mindestens einer parallelen Welt voraus. Ein Exemplar des Romans (Taschenbuch-Ausgabe) ist seit zwei Jahren unterwegs. Am 1. November 2012 (!) wurde es im Café M (OBCZ) in Aachen „freigelassen“, kam am 16. November zurück ins Regal und kreuzt laut Notiz vom 29. September 2013 wieder über imaginäre Meere auf der Suche nach einem Ankerplatz, muss aber wie der Fliegende Holländer immer erneut zurück auf Los. (bookcrossing.com)[i]

Die Illustration auf dem Buchdeckel lässt keinen Zweifel daran, was denn die Katze hereingeschleppt hat: einen abgetrennten menschlichen Finger, daran klebt noch Blut. Remember, remember the first of november: Allerheiligen. All Hallows‘ Eve. Der Abend vor Allerheiligen geht heuer in Köln einher mit gemeinsamem Kochen: In der Backröhre schmurgeln schon zwei Teufelsfische Rücken an Rücken und müssen nur hin und wieder mit dem Sud aus Tomaten, Fenchel und Weißwein begossen werden. Das Hackmesser liegt untätig, werden wir doch das Basilikum zerzupfen und über die Fische streuen. Zur Freude des Hackmessers ist aber noch Zeit für eine Halloween-Vorspeise: Brühwürstchen in Fingerlänge halbieren, die Stücke auf einem Teller arrangieren, die Schnittflächen mit einem Schuss Tomatenketchup bestreichen, die knackige innere Schale einer Zwiebel zu fingernagelgroßen Stücken schneiden und damit die abgerundeten Enden der Würstchenhälften garnieren: fertig! Jetzt mit dem Smartphone fotografieren und mit aller Welt „teilen“.

Obwohl man eher den Kürbis (Jack O‘ Lantern) mit Halloween assoziiert, ist das Fest selbst wie eine Zwiebel: nach älterer Auffassung, die den Brauch kontinuierlich auf keltische Wurzeln zurückführt, „eine dünne christliche Hülle um einen heidnischen Kern“ [ii], nach neueren ethnographischen Forschungen eher eine über den Kern gezogene Hülle, auf die eine weitere Schale aufklärerisch-atavistisch reagiert. In den Neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde der Brauch aus den USA nach Europa re-importiert, hauptsächlich wohl aus kommerziellen Gründen – in Köln sprang der Funke vom anarchischen „Jeisterzoch“ , der den wegen des ersten Irak-Kriegs verbotenen offiziellen Karnevalsumzug ersetzte, hinüber in den Herbst desselben Jahres, als Vorspiel zu der Fünften Jahreszeit, die offiziell am 11. 11. um 11 Uhr 11 beginnt und erst wieder am Aschermittwoch endet.[iii]

Während draußen in der Gegend am Ring zwischen Rudolfplatz und Friesenplatz, im Belgischen Viertel und längs des Friesenwalls die Unruhe wächst, die Geister vor den Bars und Diskotheken Schlange stehen oder sich in Hauseingängen und auf Schaufensterbalustraden ins Koma trinken, geben wir uns nach Wurstfingern und Teufelsfisch Süßes statt Saures. Draußen werden bald Flaschen an Brandwänden und graffitösen Fassaden zerschellen. Was schert uns die Welt! Irisch-katholisch ist Halloween, rheinisch- oder alemannisch-katholisch Karneval und Fasching. Und der orthodoxe Standpunkt? Ich habe keine Beziehung zu den Toten, aber an Halloween will man Tote lebendig machen. Wenn ich tot wäre, würde ich mich freuen, wenn man mich zu einem solchen Festmahl einlüde.

[i] http://www.bookcrossing.com/journal/11503860/

[ii] Sir John Frazer, The Golden Bough (1922)

[iii] http://www.geisterzug.de/ Hier „1991: Die Null-Nummer“

Patchwork

Patchwork //// Ungarn-Nachrichten im Januar 2011.  Ein geneigter Leser schickt mir – auf anderem Wege, er ist kein Blogger – folgende Zeilen:

„Was Ungarn vernäht,
will ich nicht versäumen.“

Danke, T.F., das Wortspiel hilft, dem Wettkampf zwischen Nähmaschine und Schreibmaschine aus einer dadaistischen Ecke zuzuschauen.