Lektüre von Herta Müllers Roman „Atemschaukel.“ Die Kapitelüberschrift „Meldekraut“ könnte dem Sprachgebrauch der Siebenbürger Sachsen entnommen sein. Das Wort schmeckt aber auch nach Diktatur und Spitzelwesen, es ruft zum Appell. Herta Müller jedoch spielt nicht mit der Sprache: „Nein. Das Suchen nach dem richtigen Ausdruck hat sie manchmal satt bis zum Überdruss. Sie macht ihre Arbeit, die in ihren Augen eine Arbeit ist, wie die anderer Menschen auch, die versuchen ihr Tagwerk möglichst gut zu erledigen. Sie erfindet auch keine Wörter, wie ihr der Frager unterstellt.“ [Jan Haag: Herta Müller in Tübingen]
Lageralltag der ins Sowjetland Deportierten, ewiges Ringen mit dem „Hungerengel“. Die Nahrhaftigkeit des Unkrauts im Frühling. Es wird holzig und bitter im Sommer und Herbst. Je ungenießbarer, desto schöner. Die botanische Genauigkeit der Schilderung macht neugierig. Kenne ich die Pflanze, habe ich sie schon einmal gegessen? Meine westfälische Großmutter hatte „Melle“ im Garten, der – indem sie Witwe eines Eisenbahners war – an der Strecke Köln-Münster lag. „Gartenmelde“ (Atriplex hortensis), aus dem Unkraut „Melde“ (Atriplex) kultiviert, das schon im Althochdeutschen zur Wortfamilie „Mehl“ gehört, der weiß bestäubten Blätter wegen [Wasserzieher 18./1974, S.302]? Das könnte es sein: „Meldekraut, so silbergrün, ist eine kühle Pflanze, ein Frühlingsessen.“ [Müller, 2009. S.24] Leider war bei Oma immer alles zur Unkenntlichkeit verkocht. „Wir hatten zwei Kochrezepte für das Meldekraut: Die Meldekrautblätter kann man, gesalzen natürlich, roh essen, wie Feldsalat. Den wilden Dill fein zerrupfen und draufstreuen. Oder ganze Meldekrautstiele in Salzwasser kochen. Mit dem Löffel aus dem Wasser gefischt, ergeben sie einen berauschenden Falschen Spinat. Die Brühe trinkt man dazu, entweder als klare Suppe oder als grünen Tee.“ Thema ist nicht das Essen, sondern der „chronische“ Hunger der Lagerinsassen.
Der fixierende Blick, die quälende Genauigkeit, präzise Schnitte mit dem Sprachskalpell kennzeichnen die Haltung der Autorin gegenüber dem Terror. Empörung wäre zu wenig. Damit folgt sie dem Programm der ästhetischen Erziehung des Menschen Friedrich Schillers, das schon in seiner Rezension zu G. A. Bürgers Gedichten von 1791 angelegt ist:
„Ein erzürnter Schauspieler wird uns schwerlich ein edler Repräsentant des Unwillens werden; ein Dichter nehme sich ja in Acht, mitten im Schmerz den Schmerz zu besingen. So, wie der Dichter selbst bloß leidender Theil ist, muß seine Empfindung unausbleiblich von ihrer idealischen Allgemeinheit zu einer unvollkommenen Individualität herabsinken. Aus der sanftern und fernenden Erinnerung mag er dichten, und dann desto besser für ihn, jemehr er an sich erfahren hat, was er besingt; aber ja niemals unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affects, den er uns schön versinnlichen soll. Selbst in Gedichten, von denen man zu sagen pflegt, daß die Liebe, die Freundschaft u.s.w., selbst dem Dichter den Pinsel dabey geführt habe, hatte er damit anfangen müssen, sich selbst fremd zu werden, den Gegenstand seiner Begeisterung von seiner Individualität los zu wickeln, seine Leidenschaft aus einer mildernden Ferne anzuschauen. Das Idealschöne wird schlechterdings nur durch eine Freyheit des Geistes, durch eine Selbstthätigkeit möglich, welche die Uebermacht der Leidenschaft aufhebt.“
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