35 000 Blatt an Entwürfen, Manuskripten, Briefen, Tagebüchern… Das Archiv des Literaturnobelpreisträgers und Holocaust-Überlebenden Imre Kertész hat seit dem 15. November 2012 in der Berliner Akademie der Künste seine Zuflucht gefunden, unweit des Brandenburger Tores – und damit nur einen Steinwurf entfernt vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Kein Redner und kein Journalist ließ diesen Aspekt aus – welches Vertrauen des Verfolgten und welcher Auftrag an das Land der Verfolger! Und ob in den Kommentaren ausgesprochen oder nicht – dies wirft auch ein schiefes Licht auf die Heimatstadt des Unbehausten, auf Budapest. Im Jahre 2009 hat XING hier in diesem Weblog auf der Seite „Balkanisierung“ Kertész‘ kritische Haltung gegenüber Budapest und Ungarn dokumentiert und den kulturhistorischen Hintergrund des Verdikts ausgeleuchtet. Welche Schätze es aber in diesem Archiv zu heben gibt, macht eine kleine Fotostrecke deutlich, die von der Akademie der Künste zur Veröffentlichung frei gegeben wurde. Darin findet sich die erste Manuskriptseite aus dem „Roman eines Schicksalslosen“ – und zeigt zwei später wieder gestrichene Mottos, ungarische Übersetzungen eines Zitats aus Lord Byrons „Don Juan“ sowie eines Satzes aus Franz Kafkas „Der Prozess“.
Antisemitismus
Der Wolf und die Großmutter
In diesem Land will man von Wölfen nichts wissen. Ja schon, wir haben sie. Der König schüttelt unwillig seine Mähne. Wölfe haben keine Bedeutung. Randexistenzen. Behaupten alles zu wissen über die langen Wanderungen. Jetzt hat sich einer an seiner eigenen Großmutter verschluckt, ich bitte Sie. Sollte man nicht doch mal genauer hinsehen, fragt Dr. Bubó, mehr zu sich selbst als zum Löwen gewandt. Es handelt sich doch wohl eher um eine Trübung der Seele als des Verstandes. Ich fresse doch nicht meine eigene Großmutter. Ich auch nicht, sagt der Löwe. Vielleicht eine Art Initiationsritus? Jetzt übertreiben Sie aber, Doktor! Soll sich sein Rudel drum kümmern. Dr. Bubó seufzt. In diesem Land will man über Wölfe nichts wissen.
*Dr. Bubó, populäre Trickfilmgestalt im Ungarischen Fernsehen 1974 ff. – Titelmelodie der Serie
Hintergrund: Ungarischer Rechtsextremist entdeckt jüdische Wurzeln (WELT-Online 19. August 2012)
Rechtsextreme Jobbik-Partei in Ungarn – Antisemit entdeckt seine jüdischen Wurzeln (Süddeutsche Zeitung 15.08.2012)
Internationaler Holocaust-Gedenktag in Budapest
Angesichts der Tatsache, dass bald keine Zeitzeugen mehr leben, richtet sich der Blick nach vorn: Im Budapester Holocaust-Gedenkzentrum wurde heute aus Anlass des Gedenktages das Projekt „Egy/másért“ („For Each Other“ – „Ein jeder für den Anderen“) vorgestellt. Die Botschafter von sieben Ländern (Deutschland, Großbritannien, Kanada, Polen, Schweden, Tschechien, USA) stellten hochrangige kulturelle Projekte vor, die sich – zum Teil länderübergreifend – schon seit Jahren erfolgreich für Toleranz und Völkerverständigung, für den Schutz von Minderheiten und der Menschenrechte, für die Integration von Migranten, gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Holocaust-Leugnung einsetzen. Mit der Initiative möchten die Organisatoren, unterstützt vom Ungarischen Ministerium für Kultur und Bildung, insbesondere junge Menschen für diese Themen interessieren und zum sozialen Engagement in eigenen Projekten anregen.