Heute wird Alexander Kluge 90 Jahre alt. Diese meine Grüße und guten Wünsche zum Geburtstag wird er nicht lesen. Obwohl er ja eine Unmenge liest und schreibt. Am Sonntag habe ich die letzte Stunde in der Reihe „Chronik der Gefühle“ gehört, in der Mediathek von BR 2: „Der lange Marsch des Urvertrauens“. Kluge: der Sammler von Bruchstücken, Scherben, Bombensplittern und Munition, nicht nur in den Schutthaufen seines zerstörten Halberstadt. Diese wägende Bewegung: Was liegt auf der Hand? Womit passt das zusammen? Oder auch nicht? In einem Antiquariat in Göteborg zog ich ein Taschenbuch mit rotem Schnitt aus dem Regal, das mit dem Etikett „Tysk litteratur“ versehen war. „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos.“ Das war am 2. September 1970. Den Film aus dem Jahr 1968 mit der unvergleichen Hannelore Hoger hatte ich gesehen. Ihre herbe Schönheit, die rauchige Stimme. Nun lag das Büchlein in meiner Hand. Das Drehbuch.
Ratlos war auch ich. Unser Quartett, zwei junge Männer, zwei junge Frauen, war auseinander gebrochen. Das Nordkapp hatten wir nicht mehr erreicht, schon war ich mit den beiden Frauen auf dem Rückweg nach Deutschland. Ich war der Fahrer, ich hatte das Auto. In Sunne, in der Provinz Värmland, war der Wendepunkt gewesen. Auf Gut Mårbacka am Fryken, zu dem ich mich frühmorgens, als die beiden noch schliefen, Selma Lagerlöfs und Nils Holgerssons wegen aufgemacht hatte, musste ich die heftige Anwandlung niederkämpfen, die Frauen ihrem Schicksal zu überlassen und allein weiter zu fahren. „Die Sache mit Anstand zu Ende bringen.“
Nun also Göteborg. Am Nachmittag zuvor im Kino, das war ihr Wunsch, zu dritt „The Graduate“ (1967) mit Dustin Hoffmann und der Musik von Simon & Garfunkel. „Hey Mrs. Robinson“ – das war so ganz nach ihrem Geschmack. Auch das Konzert mit Jimi Hendrix am Abend, für das es keine Karten mehr gab. Am Rand des Liseberg-Parks hingen die beiden am Zaun, kleinwüchsig, mit langen Haaren, die eine spillerig, die andere mit Rundungen. Derweil ich einem Bekannten zuhörte, auch er wie wir drei an derselben Universität. Wir waren ihm zufällig über den Weg gelaufen. Er verbreitete sich über wirkliche Bedürfnisse und die Surrogate der Kulturindustrie. Mein Kopf wiegte sich in den Wolken der Frankfurter Schule und der Theorie Wilhelm Reichs von der Funktion des Orgasmus, während mein Körper die Gitarrenriffs aufsaugte und gebremst zu den Rhythmen zucken wollte, die von Stora Scenen, der Hauptbühne, herüberwehten. „Jimi Hendrix Live in Gothenburg“ (VHS-Video 2:16 auf youtube). Siebzehn Tage später war er tot.
Alexander Kluge wird diese Zeilen nicht lesen. Dankbar für seine Filme und seine Bücher, pflanze ich diese Erinnerung in meinen kleinen Internet-Garten und widme sie ihm, dem Meister der kleinen Form und der Montage.