Wieder gelesen: Krieg und Frieden #1

Ein Monster bedroht Europa, ein Mörder, ein Bösewicht. Anna Pawlowna Scherer hustet und behauptet, die Grippe zu haben. >>> Sprung ins Jetzt: Wie, nicht Corona? Nein, Grippe<<< Ein Modewort, benutzt nur in den höchsten Kreisen. Ihre Einladung zur Abendgesellschaft wird man trotzdem nicht ausschlagen, ihr, der Vertrauten der Maria Fjodorowna, der höchsten Frau, Gattin des Zaren. Nicht nur die Einladungskarte ist französisch, auch die Konversation mit dem Gast, der vor den anderen kommt, um früher gehen zu können, ist mit französischen Floskeln durchsetzt. „Eh bien, mon prince.” Der Fürst soll bestätigen, daß es zum Krieg kommt, und nicht „alle Schandtaten und Grausamkeiten dieses Antichristen in Schutz nehmen.” Der Fürst demonstriert Kälte und Langeweile, ein scharfer Kontrast zum gespielten Enthusiasmus der Palowna. Fürst Wassilij, in lässigem Ton: „Was soll ich sagen?” Berater, Analysten, Strategen, wer auch immer, „man ist zu der Ansicht gelangt, dass Bonaparte seine Schiffe hinter sich verbrannt hat” >>> Sprung ins 21. Jahrhundert: Muß man ihm dann nicht Brücken bauen? Ihn vom Baum herunterholen, auf den er geklettert ist? Wer holt den bloß aus dieser Nummer wieder heraus? <<< „und ich glaube, wir sind im Begriff, die unsrigen ebenfalls zu verbrennen.” Machinationen, Kabinettstückchen. Die Palowna kommt in Fahrt. Er, Fürst Wassilij, soll nicht mit Österreich kommen. „Österreich wollte den Krieg niemals und will ihn auch jetzt nicht. Es verrät uns. Rußland allein muß der Retter Europas werden. Unser kaiserlicher Wohltäter kennt seine Berufung und wird ihr treu bleiben.” England versteht das nicht. Krämerseelen. Preußen? Hat schon klein beigegeben, „hat erklärt, Bonaparte sei unbesiegbar, ganz Europa könne nichts gegen ihn ausrichten…” >>> Fall ins Heute: Halt, Stopp! In welchem Monumentalfilm bin ich hier eigentlich? <<< „Cette fameuse neutralité prussienne… Ich setze all mein Vertrauen nur auf Gott und auf die hohe Bestimmung unseres lieben Kaisers. Er wird Europa retten!…”

>>> Und dann, der geniale Tolstoi, bricht das Pathos seiner Figur: „Sie hielt plötzlich inne und lächelte spöttisch über ihre eigene Erregung.” <<<

Zitate:

Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Übersetzung Marianne Kegel. München 1956.

Ratlos in Göteborg

Heute wird Alexander Kluge 90 Jahre alt. Diese meine Grüße und guten Wünsche zum Geburtstag wird er nicht lesen. Obwohl er ja eine Unmenge liest und schreibt. Am Sonntag habe ich die letzte Stunde in der Reihe „Chronik der Gefühle“ gehört, in der Mediathek von BR 2: Der lange Marsch des Urvertrauens“. Kluge: der Sammler von Bruchstücken, Scherben, Bombensplittern und Munition, nicht nur in den Schutthaufen seines zerstörten Halberstadt. Diese wägende Bewegung: Was liegt auf der Hand? Womit passt das zusammen? Oder auch nicht? In einem Antiquariat in Göteborg zog ich ein Taschenbuch mit rotem Schnitt aus dem Regal, das mit dem Etikett „Tysk litteratur“ versehen war. „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos.“ Das war am 2. September 1970. Den Film aus dem Jahr 1968 mit der unvergleichen Hannelore Hoger hatte ich gesehen. Ihre herbe Schönheit, die rauchige Stimme. Nun lag das Büchlein in meiner Hand. Das Drehbuch.

Ratlos war auch ich. Unser Quartett, zwei junge Männer, zwei junge Frauen, war auseinander gebrochen. Das Nordkapp hatten wir nicht mehr erreicht, schon war ich mit den beiden Frauen auf dem Rückweg nach Deutschland. Ich war der Fahrer, ich hatte das Auto. In Sunne, in der Provinz Värmland, war der Wendepunkt gewesen. Auf Gut Mårbacka am Fryken, zu dem ich mich frühmorgens, als die beiden noch schliefen, Selma Lagerlöfs und Nils Holgerssons wegen aufgemacht hatte, musste ich die heftige Anwandlung niederkämpfen, die Frauen ihrem Schicksal zu überlassen und allein weiter zu fahren. „Die Sache mit Anstand zu Ende bringen.“

Nun also Göteborg. Am Nachmittag zuvor im Kino, das war ihr Wunsch, zu dritt „The Graduate“ (1967) mit Dustin Hoffmann und der Musik von Simon & Garfunkel. „Hey Mrs. Robinson“ – das war so ganz nach ihrem Geschmack. Auch das Konzert mit Jimi Hendrix am Abend, für das es keine Karten mehr gab. Am Rand des Liseberg-Parks hingen die beiden am Zaun, kleinwüchsig, mit langen Haaren, die eine spillerig, die andere mit Rundungen. Derweil ich einem Bekannten zuhörte, auch er wie wir drei an derselben Universität. Wir waren ihm zufällig über den Weg gelaufen. Er verbreitete sich über wirkliche Bedürfnisse und die Surrogate der Kulturindustrie. Mein Kopf wiegte sich in den Wolken der Frankfurter Schule und der Theorie Wilhelm Reichs von der Funktion des Orgasmus, während mein Körper die Gitarrenriffs aufsaugte und gebremst zu den Rhythmen zucken wollte, die von Stora Scenen, der Hauptbühne, herüberwehten. „Jimi Hendrix Live in Gothenburg“ (VHS-Video 2:16 auf youtube). Siebzehn Tage später war er tot.

Alexander Kluge wird diese Zeilen nicht lesen. Dankbar für seine Filme und seine Bücher, pflanze ich diese Erinnerung in meinen kleinen Internet-Garten und widme sie ihm, dem Meister der kleinen Form und der Montage.

Der Insulaner #2

Der letzte Post vor einer Woche begann mit dem Zitat „Wir alle sind Insulaner.“ Nöö, stimmt nicht. „Kein Klang der aufgeregten Zeit / drang noch in diese Einsamkeit.“ – das Verspaar, mit dem Theodor Storm sein Gedicht „Abseits“ ausklingen lässt, ist nicht mehr als ein frommer Wunsch zum Sonntag. Nach dem Weihnachtsoratorium trinken wir noch etwas an der Bar, im Foyer der Konzerthalle. Das erlaubt es uns, die Masken vor dem Gesicht wegzunehmen, in die wir vorhin noch stumm unser „Jauchzet, frohlocket“ hinein geatmet haben. Das Gespräch kommt auf die neuen europäischen Kulturhauptstädte des Jahres 2022. Der Freund empört sich darüber, dass in der „Tagesschau“ Novi Sad als „K. u. K.-Stadt“ apostrophiert worden sei. „Das weiß doch jeder, dass Újvidék eine ungarische Stadt ist.“ Ich gebe zu, dass mein Wissen nicht ausreicht, um die Empörung zu teilen, werfe aber noch ein, dass der deutsche Name von Нови Сад „Neusatz“ lautet. Später am Abend kommt über WhatsApp von dem Freund noch ein Ausschnitt aus der der deutschen Wikipedia. Alle Namen gehen auf das Patent Maria Theresias vom 1. Januar 1748 zurück. In ihrer Eigenschaft als ungarische Königin verlieh sie der Siedlung die Rechte einer königlichen Freistadt und nannte sie neulateinisch „Neoplanta“. Nach der Entvölkerung durch die Türkenkriege hatten sich hauptsächlich Südslawen im Schatten der K. u. K.-Garnison angesiedelt, getrennt nach Konfession: in und unterhalb der Festung Peterwardein auf dem rechten Donau-Ufer durften nur Katholiken wohnen. Rund um den Brückenkopf auf dem linken Ufer entstand die Ratzenstadt (dt. Ratz, ung. Rác = Serbe) mit serbisch-orthodoxer Bevölkerung. Auf diesem Hintergrund erscheint mir die Bezeichnung „K. u. K.-Stadt“ durch die „Tagesschau“-Redaktion in aller Kürze ein gelungener Versuch, den Kopf aus der Schlinge der identitären Zuordnungen zu ziehen. Wir sind eben alle keine Insulaner.

Der Insulaner #1

„Wir alle sind Insulaner.“ Der letzte Satz auf Seite 241. Diese Lektüre passt in unsere Zeit. Zwei Wochen vor Weihnachten, in einem Anfall von Regression, las ich noch etwas anderes. Drei Jugendromane von Enid Blyton, ich weiß nicht zum wievielten Mal, darunter „Die Insel der Abenteuer“. In allen dreien, auch in der „Burg“ und in dem „Tal der Abenteuer“, geht es vor allem darum, den Zugang zu einem scheinbar hermetisch abgeschlossenen Raum zu finden. Die „Insel“ ist von heftig umbrandeten Klippen umgeben, und es braucht einen gewieften Skipper, um die Lücke zu passieren. Das Bergwerk auf der Insel ist aber auch durch einen Stollen unter dem Meeresboden erreichbar. Den abwärts führenden Treppengang dorthin verschließt eine Kellertür, die hinter gestapelten Kisten verborgen ist.

Es wirkt wie ein bedeutsamer Zufall, dass ich danach das Buch von Gavin Francis geschenkt bekam. Es war aber bedachtsam gewählt. Die Tochter hatte es im Gepäck. Sie kam von Berlin herüber und unterbrach die Selbstisolation ihrer Eltern. Das ungarische Wort dafür, elszigetelés, bewahrt in seinem Stamm noch die Herkunft von sziget, die Insel. Ausgesetzt wie Alexander Selkirk, interniert wie Napoleon auf Elba sind wir freilich nicht. Aber wir wägen Risiko und Ertrag ab und verzichten deshalb auf manche aushäusige Aktivität.

Das Manuskript, so der Autor im Vorwort, war seit fünf Monaten fertig, als die COVID19-Pandemie ausbrach. Für ihn ist die Leidenschaft, alte Inselkarten (oder die Kopien davon) zusammenzutragen, Ausdruck seiner individuellen Biographie. Phasen von Vernetzung, Kooperation und Unrast in den Großstädten wechseln ab mit dem Rückzug auf eine Insel und der Reduktion der sozialen Kontakte. In einer oft abweisenden natürlichen Umgebung kommt er zur Ruhe.

Die Kunst besteht darin, die Balance zu halten. Selbstfindung gelingt weder hier noch dort allein, sondern in der Bewegung. Kein Sprung von Insel zu Insel, sondern der Lebensdrift anheimgegeben. So treibt der Gedankengang von Zitat zu Zitat, von Reminiszenz zu Reminiszenz, und oft kehrt er zu einer Impression oder Erkenntnis zurück, diese noch tiefer auslotend. Die Textstruktur gleicht deshalb selbst Inselgruppen oder Archipelen, ja, fast scheinen die Absätze dem Narrativ von schwimmenden Inseln zu entsprechen, die einmal kartographisch erfasst, von späteren Seefahrern nicht mehr gefunden werden. Ein anderer Ausdruck für Intertextualität.

Statt an Plinius‘ magischen schwimmenden Inseln war Annie Dillard eher an echten schwimmenden Inseln interessiert, an dahingleitenden Mangroven-Verbünden, die sie in Florida und den Gewässern rings um die Galapagosinseln beobachtet hatte. „Sie treibt taumelnd und haltlos vor dem Wind,“ schrieb sie über eine Mangroveninsel. „Wahrscheinlich wird sie über den fremden Ozean driften, sich nähren von Tod und Wachstum, auf ihrem Weg provisorischen Boden einfangen, mit Krabben zwischen den Zehen und Seeschwalben im Haar.“

Annie Dillard, Teaching a Stone to Talk, Edinburgh: Canongate 2016. Zitiert nach Gavin Francis, Inseln, 238.

Das gedruckte Buch enthält viele Zitate und Reproduktionen von historischen Karten. Die topographischen Angaben lassen sich manchmal leider auch mit der Lupe nicht lesen; vielleicht sind sie auf dem Bildschirm, wenn sie im E-Book angezoomt werden, besser zu entziffern.

Gavin Francis, Inseln : Die Kartierung einer Sehnsucht. Köln: Dumont 2021 <Island Dreams. Mapping an Obsession. Edinburg: Cannongate 2020. Aus dem Englischen von Sofia Blind>.

Vor und während Corona : Tage der deutschen Einheit im Várkért Bazár und in Zugliget

Am 3. Oktober 2019 lud die Deutsche Botschaft in Budapest zum letzten Mal vor Corona zur Feier der deutschen Einheit ein. Dieses Mal im Várkért Bazár. Während der letzten drei Jahrzehnte war der Tag immer mit einer nahezu rituellen Danksagung an das Gastland verbunden gewesen, das durch hochrangige Politiker vertreten war. Den Tenor hatte Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinem Besuch im Dezember 1989 vorgegeben. Vor Studenten der Eötvös Lóránt Universität (ELTE) in Budapest hatte er den ewigen Dank des deutschen Volkes beschworen: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer geschlagen.“ Für den aufmerksamen Beobachter war nun (2019, als ungarische Politiker durch Abwesenheit glänzten) die Absicht spürbar, die damaligen Ereignisse aus der aktuellen Politik herauszuhalten und sie mit einem Augenzwinkern zu historisieren. Eine Ausstellung mit Objekten aus DDR-Produktion modellierten ein Wohnzimmer. Mit den Gegenständen, die in den Wohnungen zurückgelassen wurden.

Oder einen Camping-Platz. Für Zeitzeugen mögen Erinnerungen an die Zeltlager in Zugliget oder am Balaton aufgestiegen sein, in denen die Ausreisewilligen aus der DDR eine große Hilfsbereitschaft der ungarischen Menschen erfuhren. Und dann talkte Kai Pflaume mit dem Botschafter. Eine Schuhplattler-Gruppe rhythmisierte ihre Tänze mit dem Öffnen und Schließen von Werkzeugkästen und Biergartenstühlen. Die Gäste konnten sich am Steuer eines Trabants fotografieren lassen und die Polaroids mit nach Hause nehmen.

2020 am 3. Oktober fand dann coronabedingt keine offizielle Feier mehr statt. Eine Wanderung durch die Budaer Berge führte meine Frau und mich nach Zugliget zur Kirchengemeinde von Pfarrer Kozma, wo die Malteser die Betreuung der DDR-Bürger, die ausreisen wollten, übernommen hatten. Im Garten zwei Betonteile der Berliner Mauer und ein mit Schlagzeilen bedruckter Trabi – Monumente der jüngsten Geschichte.

Stand einfach an der Straße in Zugliget herum, ein restaurierter ZiL 110, die sowjetische Staatskarosse. Nur 2200 Stück waren davon produziert worden. Auf dem polierten Lack die Schalen von Rosskastanien wie kleine Igel.

Gestern Zweitimpfung mit Moderna

Genau zwölf Wochen liegt der erste Shot mit Astra Zeneca zurück. Die Hamburger Gesundheitsämter hielten sich genau an das XING-Motto (Crossing whenever possible) und reichten eine Injektion mit einem mRNA-Impfstoff nach. Boosting nach den Empfehlungen der STIKO!

Noch ein Wort zum Hamburger Impfzentrum: Super Organisation! Tolle Kommunikation! Lauter junge Ärzte und Ärztinnen oder Freiwillige, denen trotz Wochenende ihre Arbeit Spaß zu machen schien. Alle geben Dir das Gefühl, dass sie gerade auf Dich gewartet haben und sich ganz besonders freuen, dass Du mit ihnen zusammen der Impfkampagne zum Erfolg verhilfst.

Ein angenehmer Nebeneffekt des Mund- und Nasenschutzes: Maskenhaftes Lächeln, aus Gründen der Professionalität oder des Marketings, musst Du nicht über Dich ergehen lassen. Das Lächeln siehst Du in den Augen.

Keine Menschenschlangen wegen des guten Zeitmanagements (Foto: XING)

Farbe bekennen, ohne Fahnen zu schwenken

My Fest, Berlin-Kreuzberg, 1. Mai 2019 (Foto: XING)

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“ Aber Bilder plappern oft nur so daher und bringen es selten auf den Punkt. Manchmal ist die Bedeutung hermetisch darin verschlossen, auch für mich selbst. Das bringt mich auf die gegenwärtige deutsche Hysterie. Wir schwenken nur noch Fahnen und tragen Symbole. Die FFP2-Maske ist zu einem solchen geworden, und heute Abend sollen die Fußballstadien deutschlandweit in Regenbogen-Farben erstrahlen.

Nachdem die UEFA-Führung diese Art der Beleuchtung als politische Aussage, die im Stadion nichts zu suchen habe, qualifiziert hat, ist nur der Schauplatz der deutsch-ungarischen Begegnung davon ausgenommen: die Allianz-Arena in München. Konsequentes Handeln sieht anders aus – der deutsche Kapitän durfte mit seiner Regenbogen-Armbinde spielen. Jetzt lässt der DFB Fähnchen verteilen… Aber keiner in der DFB-Führung hat die Eier, bei den Fans die behördlichen Corona-Auflagen durchzusetzen, unter denen das Spiel vor Zuschauern überhaupt nur erlaubt wurde. In denen die FFP-2-Maske nicht als Symbol des Mainstreams gilt, sondern als Schutz gegen die reale Gefahr einer COVID-19-Infektion eine vernünftige Rolle zugewiesen bekommt. Es wäre einer soziologischen Fallstudie wert, die Zahl der Fans im Stadion zu zählen, die ein Fähnchen schwenken u n d eine Maske tragen. Natürlich auch die Fangruppen, die weder die eine noch das andere bzw. nur eine(s) von beiden zeigen.

Bild: faz-net

1990 erzählte ich dem Freund in Amsterdam, ich würde ab dem Herbst als Deutschlehrer nach Ungarn gehen. „Dort werde ich dich nicht besuchen,“ sagte er sehr bestimmt, „dort leben nur Antisemiten und Homophobe.“ Ich bin trotzdem über die Grenze gegangen, weil ich wusste, dass es nicht so ist. Die meisten Filme von Rainer Werner Fassbinder hatte ich, in der westdeutschen Provinz lebend, während der Achtziger Jahre in Budapest gesehen. „In einem Jahr mit 13 Monden“ zum Beispiel, in dem kleinen Programmkino „Kinizsi“ im IX. Stadtbezirk (Ferencváros). Elvira, der Transsexuelle, der sich aus Liebe zu einem Mann zur Frau hatte umgestalten lassen… Elvira wird auf dem Homo-Strich von Freiern verprügelt, weil sie nicht das bekamen, was sie erwarteten…

Wie kann ich mein Gefühl beschreiben, als ich diese Szenen sah? Eine Alarmstimmung, ähnlich der, als ich mit meiner hochschwangeren Frau in ein Münchener Lesben-Café ging, um dort ihre Freundin zu treffen? Oder eine Mischung aus Furcht und Faszination in den männerbündnerischen Ritualen, an denen ich als Wehrpflichtiger bei der Bundeswehr beteiligt war – als Opfer und Täter? Die neuen Rekruten aus dem Tiefschlaf holen und im Schlafanzug unter die kalte Dusche stellen? Mit den Stubenkameraden nackt auf den Spinden hocken und literweise Bier aus den Stahlhelmen trinken (müssen)? In der Zwölfmannstube Eifersuchtsszenen homosexueller Paare nachspielen, nur so, Proben für einen nie gedrehten Film?

Wenn mich ein Schüler oder Student (und dies ist nicht nur das generative Maskulinum, sondern hier auch eine Markierung) danach fragen würde, welche Einstellung ich zum Anderssein hätte, würde ich ihm von meinen Erfahrungen erzählen. Vorausgesetzt, sie fänden ein Ohr. Ich würde versuchen zu erklären, dass die Liebe voller Zauber und voller Schrecken ist. Dass es vor allem dann schwierig wird, wenn sie körperlich werden will, dieses Begehren aber von der geliebten Person nicht erwidert wird. Dass es eine Kunst ist, nein zu sagen, ohne den anderen zu verletzen. Und dass wir nicht Elvira werden müssen, sondern Elvirus bleiben dürfen, wenn der andere uns wirklich liebt.

Die ungarische Regierung und ihre Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament irren. Mit dem Gesetz, das eine geregelte pädagogische Information über alternative Wege zum persönlichen Glück – „the pursuit of happyness“ ist nicht nur ein Film, sondern steht in der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung – verhindern soll, bleiben sie dem falschen Glauben an die Wirksamkeit von schulischen Lehrplänen verhaftet. Das persönliche Gespräch des Pädagogen mit den ihm Anvertrauten werden sie nicht verhindern können. Und ich habe die Filme von Rainer Werner Faßbinder gefunden, ohne dass ich als Schüler darüber in der Schule instruiert wurde.

Klar ist aber auch, dass die Werte von Toleranz und Vielfalt nur schwer gelebt werden können ohne unterstützende rechtliche und institutionelle Strukturen. Statt Fähnchen schwenken zu lassen, muss der DFB endlich strukturell und normierend dafür sorgen, dass ein Outing auch in den weniger prominenten Etagen des Profi- und Amateurfußballs nicht zu sozialer Ausgrenzung führt. Dass nicht Schiedsrichter*innen („endlich das Gendersternchen“, ruft Detre dem Xing ins Ohr), dass nicht die Unparteiischen von hysterischen Eltern verprügelt werden, nur weil sie Regeln zur Geltung verhelfen wollen, die zum Wohle aller vereinbart sind. Und dass er seine Pflicht als Veranstalter ernst nimmt, einer neuen Ausbreitung der Pandemie, nun in ihrer Delta-Variante, Einhalt zu gebieten.

Aber Mut brauchen wir alle.