Großraumflugzeug

Der Airbus 319 rollt pünktlich um 6 Uhr 50 zur Startbahn, fünf Minuten später geben die Triebwerke vollen Schub, die Maschine hebt ab. Die Wahner Heide, das Bergische Land liegen noch unter einer dichten Wolkendecke, aber dann reißt sie kurz auf:  Weit kann das Auge dem Lauf der Sieg folgen, und das Bergrelief macht plausibel, warum nur dort, in diesem Taleinschnitt, um jenen Hügel herum, der Fluss fließen kann und nicht etwa im Tal daneben. Es ist alles an seinem Platz, alles ist gut, alles ist schwer, eine gute Grundierung für den Ausgleich des Schlafdefizits. Die Augenlider dürfen zufallen. Später lässt der  Flugkapitän  seinen Ersten Offizier die Passagiere grüßen und ausrichten, dass wir pünktlich gestartet sind, die vorgesehene Flughöhe erreicht haben, dass es starken Seitenwind aus Nord gibt, wir aber dennoch oder deshalb pünktlich in Budapest landen werden, dass die Temperaturen dort zur Zeit zwei Grad minus, die Sicht aber klar, ein sonniger Tag zu erwarten seien. Jó, hát!

Von der Wolkendecke lösen sich schließlich doch – erst hier und dort,  dann zunehmend auf größeren Flächen – fahle Dunstschleier, dampfen herauf und vergehen im Licht zu Nichts . Beim Flug in den tschechischen Luftraum sind die Wolken fast vollständig verschwunden, nur über einem Stausee, dessen Auge ruhig und klar heraufblickt, hält sich  ein klar begrenztes Lid aus Wolken. Ich erwidere den Blick, schaue auf den Augendeckel und darunter, ja, die Unterseite der Wolkenschicht spiegelt sich auf der Wasseroberfläche. Flussläufe, gesäumt von schmalen Baumstreifen, Reste ehemaliger Auwälder, schlängeln sich verspielt durch die flurbereinigten Flächen der Großagrarindustrie, dann knickt rechtwinklig von einem der Wasserläufe ein schnurgerader Kanal ab – ja, das ist das Donau-Stauprojekt bei Gabcikovo und Mosonmagyaróvár, wir müssen also schon über die Slowakei hinweg sein, und die Flussläufe waren die Donau-Seitenarme, welche die Große Schüttinsel durchpflügen. Aber wo ist sie selbst, die Schöne, die Blaue, die majestätische Große Donau? Da endlich taucht sie auf, unterm Bauch des Flugzeugs, ein breites Band gehämmerten Silbers, und noch nie sah ich sie so schön wie heute, im weiten Schwung gen Osten mäandernd.

Deutlich auszumachen sind Esztergom mit der riesigen Kathedrale, dem Suzuki-Autowerk und der wiederhergestellten Donaubrücke, welche die Slowakei und Ungarn, zwei Länder der Europäischen Union, verbindet. Klar zu sehen sind die Schleife bei Nagymaros mit den bald verheilten Wunden der aufgegebenen Staustufe, die Prall- und Gleithänge des Durchbruchs zwischen dem Börzsöny-Gebirge und den Visegrader Bergen. Ahne ich dort oben auf der Erhebung die Burg von Visegrad? An ihrem Fuß den ausgegrabenen Sommerpalast des Königs Matthias? Terassenartig stiegen die Höfe den Berg hinan, durch bequeme Treppen verbunden, von Säulen flankiert, mit Brunnen aus rotgeädertem Marmor versehen, in die aus goldenen, wie Löwenköpfe geformten Zapfhähnen weißer und roter Wein sprudelten. Und von den Bergen noch verdeckt, aber gewusst und dann gesehen, das Knie, die Kurve, die große Wendung der Donau aus der West-Ost- in die Nord-Süd-Richtung: Die Donau ist der große Bogen, unsere Flugroute die Sehne, von unsichtbarer Hand gespannt, um mir den Pfeil ins Herz zu jagen.

Vom Abendessen mit Professor R. zurück. Auch der AirBus war Thema, nicht der 319er, sondern der neue, der Riesenvogel, der 380er. Dagegen der eigene Flug des Professors im Motorsegler, bei abgestelltem Motor, die Seeadler,  neugierig, kamen ganz dicht an die Kabine heran. Aber ein Fitness-Studio im Airbus für den Transatlantikflug! Das hat was! Überall Entgrenzung und Verdichtung: Räume werden ineinander geschoben, Zeiten aufeinander gestapelt. Den Telefonhörer zwischen Schulter und Wange geklemmt, huschen meine Finger über die Computertastatur, während jemand mir seine  Träume erzählt. Im Fitness-Studio – nein, nicht über den Wolken! – lege ich mir das INTERCITY-MAGAZIN, wenn es dann mal erschienen ist, auf den Crosstrainer, weil Lesen und Joggen gleichzeitig anders nicht geht.  Die steigende Verdichtung lässt kaum noch Zwischenräume, Zwischenzeiten entstehen. Der Schrott nimmt zu, der im Urlaub wegzuträumen ist.  Ich komme nicht mehr dazwischen, ich komme nicht mehr vor. Aber heute hat die Stadt mich mit offenen Armen und einem strahlenden Lächeln aufgenommen. Ich könnte darin vergehen.

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