Auf dieser Seite werden Texte dokumentiert, in denen ich auf literarische Produktionen bekannter und weniger bekannter Autoren und Autorinnen reagiere. Keine Rezensionen im Sinne von kritischen Leistungsbeschreibungen. Sondern Resonanzen, Gedanken und Reflexionen, die von Lyrik und Prosa Andersschreibender angeregt wurden.
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Esther Kinsky, Hain : Geländeroman. Berlin : Suhrkamp Taschenbuch 2019.
Mary Ann Shaffer/ Annie Barrows, „Deine Juliet“
Mir gefällt der Originaltitel besser: The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society. In der Übersetzung des Clubnamens geht die Alliteration PPP und durch die Genitivkette ein wenig die Poesie verloren: Club der Guernseyer Freunde von Literatur und Kartoffelschalenauflauf. Die paradoxe Zusammenstellung von literarischem Anspruch und dem Rezept aus Küchenabfällen bleibt dennoch erhalten. Ansonsten ist die Übersetzung durch Margarete Längsfeld und Martina Tichy angenehm leicht. Das Unvereinbare, das der britische Humor miteinander versöhnt, blitzt auch im Text immer wieder hervor. Das Schwere wird nicht verschwiegen, aber der Leser darf immer wieder einmal erleichtert auflachen. Er darf es nicht nur, er muss es sogar, angesichts der witzigen Einfälle der Autorinnen.
Die Handlung spielt im Frühjahr 1946 auf der Kanalinsel Guernsey, die – im Besitz der Krone, aber nie Teil des Königsreichs – während des Krieges von der Deutschen Wehrmacht besetzt war. Schon wieder eine Inselgeschichte – doch durch die Form des Briefromans in vielen Narrationen, die in Rückblenden den Anschluss an die Geschichte der Besatzungsjahre suchen. Die persönlichen Perspektiven ergeben ein buntes Kaleidoskop der Inselbewohner. Die Besatzer erhalten mit ausgefeilter Bürokratie eine Zwangsbewirtschaftung aller landwirtschaftlichen Produkte aufrecht, um diese der Versorgung ihrer Armee in Nordfrankreich zuzuführen. Der literarische Club wird bei einer Razzia aus der Not des Augenblicks geboren. Oder aus der Taufe gehoben, um ein illegales Abendmahl zu tarnen, bei dem ein dem Zugriff der Deutschen entzogenes Schwein verspeist wird. Um die Tarnung aufrecht zu erhalten, müssen die literarischen Abende wiederholt werden. Das stellt die lektüre-ungewohnten Clubmitglieder vor Aufgaben, die starke Kontraste zu ihrer Alltagstätigkeit hervorrufen.
Die kapriziöse Persönlichkeit der Protagonistin Juliet, einer Journalistin, die einem Rezensenten auch schon mal eine Teekanne an den Kopf wirft, entfaltet sich in den Briefwechseln mit Sidney, ihrem Verleger, und dessen Schwester Sophie, ihrer besten Freundin. Ihr warmes Herz dagegen offenbart sich in der Korrespondenz mit einem Landwirt und weiteren Einwohnern auf Guernsey. Dawsey Adams wurde auf sie aufmerksam, weil er ein antiquarisches Buch besitzt, das ihr laut Exlibris einmal gehört hat. Durch seine brieflichen Schilderungen des Insel- und Clublebens während der Kriegsjahre, zu denen er auch andere Clubmitglieder anstachelt, wird Juliet immer vertrauter mit dem Kreis von geradlinigen, schlichten, manchmal aber auch ein wenig bizarren Persönlichkeiten. Sie macht Sidney ein Buchprojekt schmackhaft. Dieses soll ihrem Bestseller Izzy Bickerstaff zieht in den Krieg folgen, einer Sammlung von Glossen, von denen die Londoner Zeitungsleser während der häufigen Bombenalarme in den Kellern und U-Bahnstationen aufgemuntert wurden. Eine Recherchereise auf die Insel liegt deshalb nahe. Wird sie, die schon 32jährige, ihr persönliches Glück auf Guernsey finden?
Ihre Recherche modelt den Kreis zu einer Ellipse um. Eine Ellipse hat zwei Brennpunkte. Neben Juliet als dem einen Bezugspunkt entwickelt sich eine Abwesende zum anderen: Elizabeth McKenna. Sie wurde von der Gestapo verhaftet und in ein Lager im besetzten Frankreich gebracht. Ihr in kleinen mitmenschlichen Aktionen dokumentierter Widerstand ist vielen in dankbarer Erinnerung. Nur wenige werfen ihr die uneheliche Beziehung zu einem deutschen Wehrmachtsoffizier vor, dem in den Erzählungen ebenfalls Respekt entgegen gebracht wird. Er wurde an die Ostfront versetzt, das aus dieser Verbindung stammende Mädchen musste Elizabeth bei ihrer Deportation zurücklassen, und viele Clubmitglieder kümmern sich nun um die inzwischen vier Jahre alte Kit, immer in der Hoffnung, dass die Mutter unter den vielen displaced persons gefunden wird, die aus den Lagern zurückkehren.
Ein Brief bringt die traurige Gewissheit. Eine Lagergenossin, die sich im KZ Ravensbrück mit ihr angefreundet hatte, berichtet von Elizabeth’s Hinrichtung kurz vor der Befreiung des Lagers. Remys Schreiben liegt ein weiterer Brief bei, von einer Pflegerin in einem Hospiz in Louviers. Dawsey und Amelia, die Elizabeth im Leben am nächsten gestanden hatten, beschließen hinüber in die Normandie zu reisen, um Näheres von Remy zu erfahren.
Hier ereignete sich bei meiner Lektüre, was Ernst Bloch den „Fall ins Jetzt” nennt. Bloch bezieht sich auf eine Gespenstergeschichte von Johann Peter Hebel, aus seiner Sammlung Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes. In einem Spukschloss in Schweden, das Übernachtungsgäste niemals lebend verlassen, findet der Erzähler, an einem Nagel neben einem Spiegel hängend, ein Exemplar eben dieses Almanachs, des Rheinischen Hausfreundes. Mein Blick war dagegen auf einen Porzellanteller gefallen, der neben vielen anderen bemalten Keramiktellern, ungarischen bäuerlichen Traditionen gemäß, im 123jährigen, reetgedeckten, aus gestampften Lehm errichteten Haus an der Wand hängt, das meine Frau von ihren Eltern geerbt hat. Der Teller (siehe Foto) stammt aber aus dem Nachlass meiner Eltern. Sie hatten ihn von einer Jumelage in Louviers mitgebracht. Zwischen dieser kleinen alten Stadt in der Normandie und meinem Geburtsort Holzwickede besteht seit 1978 eine Städtepartnerschaft. Begegnungen von Menschen aus Deutschland und Frankreich sind seit den Élysée-Verträgen, die 2023 ihr sechzigstes Jubiläum feiern, fester Bestandteil der Aussöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern. Die Partnerschaft wird deutscherseits durch einen umtriebigen Verein gelebt, dem Freundeskreis Holzwickede Louviers – siehe unter dem externen Link: https://hallo-salut.de/
So wird aus dieser meiner Rezension unvermittelt ein Erinnerungsort. Laut Wikipedia „[…] wurde Louviers am 9. und 10. Juni 1940 von der Luftwaffe bombardiert. Wasser- und Stromversorgung sowie die Telefonleitungen waren unterbrochen. Am 11. Juni wurde die Stadt fast vollständig evakuiert. In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni fand in Louviers ein Artilleriegefecht zwischen der anrückenden Wehrmacht und dem 25. französischen Artillerieregiment (25e régiment d’artillerie ) statt, durch das die Altstadt im Stadtzentrum zerstört wurde. Am nächsten Tag besetzten deutsche Truppen Louviers. […] Im Sommer 1944 bombardierte die alliierte Luftwaffe im Rahmen der Operation Overlord die Stadt.”
Mit einem Romanzitat baue ich weiter an diesem virtuellen Erinnerungsort. Am 21. Juni 1946, einen Tag vor dem Besuch bei Remy, Elizabeth’s Lagergenossin, schreibt Dawsey Adams:
Liebe Juliet,
wir sind nun hier in Louviers, haben Remy aber noch nicht aufgesucht. Die Reise hat Amelia sehr ermüdet, und sie möchte sich einen Abend ausruhen, bevor wir uns auf den Weg ins Hospiz machen.
Die Fahrt durch die Normandie war furchtbar. Die Straßen in den Städten sind gesäumt von Schutthaufen und verbogenen Metallteilen. Zwischen den Häusern klaffen große Lücken, und die Gebäude, die noch stehen, sehen aus wie schwarze Zahnstummel. Ganze Hausfassaden sind weg, man sieht direkt auf Blumentapeten, zur Seite gekippte Bettgestelle, die sich irgendwie an den Fußboden klammern, und andere Zeichen vergangener Leben. Jetzt begreife ich, dass Guernsey im Krieg wirklich Glück gehabt hat.
…Auf den Straßen sind immer noch viele Menschen damit beschäftigt, Ziegel und Steine in Schubkarren und anderen Gefährten fortzuschaffen. Sie haben Netze aus schwerem Draht über den Schutt gelegt und so Straßen geschaffen, auf denen Traktoren fahren können. Außerhalb der Städte sieht man zerstörte Felder mit riesigen Kratern, zerwühltes Land und verwüstete Hecken. (201 | 202)
Die Bäume sind ein jammervoller Anblick. Keine großen Pappeln, Ulmen und Kastanien mehr – die traurigen Reste sind verkohlt und verkümmert, dürre Stecken ohne Schatten.
M. Piaget, der hiesige Gastwirt, erzählte uns, dass auf Befehl der deutschen Pioniere Hunderte von Soldaten gesunde Bäume gefällt haben – ganze Wälder und Gehölze. Dann hackten sie die Äste ab, schmierten die Stämme mit Teeröl ein und steckten sie senkrecht in Löcher, die sie in den Feldern gegraben hatten. Diese »Bäume« wurden Rommelspargel genannt und sollten Fallschirmabsprünge und Landungen von alliierten Lastseglern verhindern.
Da Amelia nach dem Abendessen gleich zu Bett gegangen ist, habe ich noch einen Spaziergang durch Louviers gemacht. Der Ort hat hübsche Ecken, obwohl er stark bombardiert worden ist und die Deutschen bei ihrem Rückzug Feuer gelegt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie aus Louviers je wieder eine lebendige Stadt werden soll.
Ich bin wieder zurückgegangen und habe mich auf die Terrasse gesetzt, bis es ganz dunkel war, und an den morgigen Tag gedacht.
Umarmen sie Kit von mir.Ihr Freund
Shaffer/ Barrows, Deine Juliet, 201-202.
Dawsey”
Diese Rezension soll mit einem Ausblick auf das Ende des Briefromans abgerundet werden. Ohne spoiler. Ich verrate nicht, ob aus Juliet und Dawsey ein Paar wird und ob ihnen, die sich um Kit kümmern, auch das Sorgerecht übertragen wird. In die letzten Romanwendungen hinein spielt eine spannende Kriminalgeschichte, in denen es um acht Originalbriefe von Oscar Wilde an ein Kind auf Guernsey geht. Die Briefe hat ein Clubmitglied, die skurrile Kräuterhexe mit dem sprechenden Namen Isola , von ihrer Großmutter geerbt und bewahrt sie in einer Teedose auf. Finstere Literaturagenten schleichen sich ein, um sich in den Besitz dieser literarischen Sensation zu bringen und verlegerisches Kapital daraus zu schlagen. Ob ihnen das gelingt, wird ebenfalls nicht verraten.
Mary Ann Shaffer/ Annie Barrows, Deine Juliet. München 62015 : btb bei Random House <The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society. New York 2008 : The Dial Press. Deutsch von Margarete Längsfeld und Martina Tichy.>. Menu dieser Seite
Gavin Francis (2021) „Inseln : Die Kartierung einer Sehnsucht“
„Wir alle sind Insulaner.“ Der letzte Satz auf Seite 241. Diese Lektüre passt in unsere Zeit. Zwei Wochen vor Weihnachten, in einem Anfall von Regression, las ich noch etwas anderes. Drei Jugendromane von Enid Blyton, ich weiß nicht zum wievielten Mal, darunter „Die Insel der Abenteuer“. In allen dreien, auch in der „Burg“ und in dem „Tal der Abenteuer“, geht es vor allem darum, den Zugang zu einem scheinbar hermetisch abgeschlossenen Raum zu finden. Die „Insel“ ist von heftig umbrandeten Klippen umgeben, und es braucht einen gewieften Skipper, um die Lücke zu passieren. Das Bergwerk auf der Insel ist aber auch durch einen Stollen unter dem Meeresboden erreichbar. Den abwärts führenden Treppengang dorthin verschließt eine Kellertür, die hinter gestapelten Kisten verborgen ist.
Es wirkt wie ein bedeutsamer Zufall, dass ich danach das Buch von Gavin Francis geschenkt bekam. Es war aber bedachtsam gewählt. Die Tochter hatte es im Gepäck. Sie kam von Berlin herüber und unterbrach die Selbstisolation ihrer Eltern. Das ungarische Wort dafür, elszigetelés, bewahrt in seinem Stamm noch die Herkunft von sziget, die Insel. Ausgesetzt wie Alexander Selkirk, interniert wie Napoleon auf Elba sind wir freilich nicht. Aber wir wägen Risiko und Ertrag ab und verzichten deshalb auf manche aushäusige Aktivität.

Das Manuskript, so der Autor im Vorwort, war seit fünf Monaten fertig, als die COVID19-Pandemie ausbrach. Für ihn ist die Leidenschaft, alte Inselkarten (oder die Kopien davon) zusammenzutragen, Ausdruck seiner individuellen Biographie. Phasen von Vernetzung, Kooperation und Unrast in den Großstädten wechseln ab mit dem Rückzug auf eine Insel und der Reduktion der sozialen Kontakte. In einer oft abweisenden natürlichen Umgebung kommt er zur Ruhe.
Die Kunst besteht darin, die Balance zu halten. Selbstfindung gelingt weder hier noch dort allein, sondern in der Bewegung. Kein Sprung von Insel zu Insel, sondern der Lebensdrift anheimgegeben. So treibt der Gedankengang von Zitat zu Zitat, von Reminiszenz zu Reminiszenz, und oft kehrt er zu einer Impression oder Erkenntnis zurück, diese noch tiefer auslotend. Die Textstruktur gleicht deshalb selbst Inselgruppen oder Archipelen, ja, fast scheinen die Absätze dem Narrativ von schwimmenden Inseln zu entsprechen, die einmal kartographisch erfasst, von späteren Seefahrern nicht mehr gefunden werden. Ein anderer Ausdruck für Intertextualität.
Statt an Plinius‘ magischen schwimmenden Inseln war Annie Dillard eher an echten schwimmenden Inseln interessiert, an dahingleitenden Mangroven-Verbünden, die sie in Florida und den Gewässern rings um die Galapagosinseln beobachtet hatte. „Sie treibt taumelnd und haltlos vor dem Wind,“ schrieb sie über eine Mangroveninsel. „Wahrscheinlich wird sie über den fremden Ozean driften, sich nähren von Tod und Wachstum, auf ihrem Weg provisorischen Boden einfangen, mit Krabben zwischen den Zehen und Seeschwalben im Haar.“
Annie Dillard, Teaching a Stone to Talk, Edinburgh: Canongate 2016. Zitiert nach Gavin Francis, Inseln, 238.
Das gedruckte Buch enthält viele Zitate und Reproduktionen von historischen Karten. Die topographischen Angaben lassen sich manchmal leider auch mit der Lupe nicht lesen; vielleicht sind sie auf dem Bildschirm, wenn sie im E-Book angezoomt werden, besser zu entziffern. (02.01.2022)
Gavin Francis, Inseln : Die Kartierung einer Sehnsucht. Köln: Dumont 2021 <Island Dreams. Mapping an Obsession. Edinburg: Cannongate 2020. Aus dem Englischen von Sofia Blind>. Menu dieser Seite
Esther Kinski (2018) „Hain : Geländeroman“
Wohl die meisten Jahresrückblicke, auch die persönlichen, auf das Jahr 2020 bringen alles in Verbindung mit der Pandemie. Die diesjährige Leseliste verzeichnet oft, genau wie beim Schreiber dieser Zeilen, im Frühjahr die Lektüre von Albert Camus‘ Roman „Die Pest“. Ich beende das Lesejahr mit dem 2018 bei Suhrkamp erschienenen Memento mori von Esther Kinsky, Hain : Geländeroman. Wenn man sagt, der Roman spiele in Italien, so sollte man die Spielmetapher ernst nehmen. Zunächst einmal kartographiert er reale Orte und Landschaften, die sinnlich konkret vergegenwärtigt werden – auch in den Affektionen einer verspäteten Moderne, die den Ortsrand ausfransen lassen und die Umgebung mit aufgegebenen Fabriken, Lagerhallen und im Winter leerstehenden Ausflugslokalen sprenkeln. Dead end. So sind die Landstriche zugleich von Schwermut und Trauer gesättigte Seelenlandschaften. Olevano, Chiavenna, Comaccheo – drei Ortsnamen geben die Titel für die drei Romanteile her und stehen für drei Reisen der Ich-Erzählerin in recht abgelegene Regionen Italiens – in die östlichen Hügelketten der Metropolregion Rom, zum südlichen Absturz der Alpen, wo sie sich zur Lombardei hin öffnen, und in die Valli rund um das Flussdelta des Po. Die Gegenden um Olevano und Comaccheo sind in das Licht des Winters getaucht, nur der Mittelteil reflektiert die Erinnerungen der Erzählerin an die häufigen Ferienreisen in den italienischen Sommer während der Kindheit und an die prägende Gestalt des verstorbenen Vaters.
Die Autorin folgt nicht nur dem Vorbild Prousts, dem Konzept der unwillkürlichen Erinnerung, ausgelöst durch den Duft eines Gebäcks. Diesem lassen sich Motive zuordnen wie der Ekel vor Aalen, das Interesse für die etruskischen Nekropolen, das Lapislazuli-Blau in den Gemälden des Fra Angelico – allesamt der Sphäre des eigenwilligen und kunsthistorisch interessierten Vaters entstammend. Die Kindheitserinnerungen sind durch die Landvermessungen des ersten und dritten Romanteils eingerahmt. Dort erhalten sie ihren Platz. Sie werden wie die sinnlichen Eindrücke, wie die Vogelrufe, Wolkenbilder, Berge verrottender Orangen, die aufsteigenden Rauchsäulen der Olivenholzfeuer im Gelände verortet.
Durch die Siedlungen in der Niemandsebene hinter Rom fährt die Erzählerin – oft in Überlandbussen oder Vorortzügen – mehr oder weniger achtlos hindurch, nicht ohne dieser Achtlosigkeit genauesten Ausdruck zu geben. Ihr Ziel sind Orte, die sich über die Ebene erheben. Diese haben aber wenig Erhabenes, sind beinahe Nicht-Orte wie Olevano, die gesichtslose Neubausiedlung mit der Fernbusstation hinter dem von einem Tunnel durchstoßenen Bergrücken, das alte Dorf auf einer Anhöhe, auf einer zweiten, noch höher gelegenen, ein einzelnes Haus, in dem die Erzählerin für drei Monate unterkommt, auf der dritten wiederum noch höher der Friedhof, akzentuiert von einem Satz Zypressen, dem ein Satz Pinien auf einem Höhenzug in der Ferne zu antworten scheint. Passend das bei Wittgenstein entlehnte Motto: „Hat es Sinn, auf eine Baumgruppe zu zeigen und zu fragen: ‚Verstehst Du, was diese Baumgruppe sagt?‘ Im allgemeinen nicht; aber könnte man nicht mit der Anordnung von Bäumen einen Sinn ausdrücken, könnte das nicht eine Geheimsprache sein?“
Nur Kopfgeburten also, mit kulturhistorischen Reminiszenzen angereichert? Der Text hat zum Glück nichts Angestrengtes; der Roman entfaltet einen sehnsüchtigen Sog nach mehr Vereinzelung, Reduktion, Abwesenheit. Gänzlich fern ist Erhabenheit zwischen den Kanälen und Dämmen, in den Poldern des Neulands, das dem Flussdelta abgerungen wurde. Aber auch hier werden Landmarken verzeichnet, wie die zum Himmel flehenden Strommasten rund um eine Umspannstation, die Schirmpinien der verlassenen Ferienstrände, die bis in den letzten Moment der Annäherung reglos verharrenden Graureiher und Flamingos.
Die Konstruiertheit des Romans ist kein Nachteil, sondern dient der Orientierung. Er hat eher etwas von Sandkastenspielen. Diese gruppieren die eigenen Truppen und machen die Stellungen des Gegners sichtbar. Psychomachia. Der Gegner ist der Tod.
Ein Spiel. Auch der Tod hat nichts Erhabenes: Die Wohnblöcke im Neubaugebiet bilden sich auf dem Friedhof in den Fornetti ab, den Fächern aus Betonelementen, in denen die Särge oder Urnen abgestellt werden. An der Stirnwand des Fachs sind Name und Lebensdaten verzeichnet, oft mit einem Foto des Toten und Halterungen für die Plastikblumen versehen. „Kolumbarien hießen die Wände, erfuhr ich, Taubenschläge für die Seelen, […] in der Alltagssprache ‚fornetti‘ […], Backöfen, in die man Sarg oder Urne schiebt.“ (22). Die Konstruktion erinnert die Erzählerin an die Andachtsorte in rumänischen Kirchen: links vom Eingang die Nischen, in denen Kerzen für die Lebenden aufgestellt werden können, rechts die Nischen für die Toten. Die Kerze verpflichtet sich zu nichts: Unmittelbar nach dem Sterben kann sie noch brennend von links nach rechts hinübergetragen werden.
Stillstellung der Zeit, Verräumlichung der Geschichte, Stationen der Pandemie, geschlossene Orte, dead end: Während des ersten Lockdowns waren die und die Orte gesperrt, während des zweiten wurde der Zugang zu den und den Orten flexibel gehandhabt, im dritten wieder die totale Verbannung ins eigene Heim verhängt. In mir wächst die Lust auf eine Schachpartie. Aber woher in diesen Zeiten den Gegenspieler nehmen? Aus dem Internet? Dann lieber kleine Brötchen backen. Und weiterlesen. (28.12.2020)
Esther Kinsky, Hain : Geländeroman. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch 2019. Menu dieser Seite