Augen- und Ohrenzeuge

Lieber Augen- und Ohrenzeuge,

taubich war nicht dabei, weder bei dem Vortragsabend, noch in der deutschsprachigen Kirchengemeinde, aber wenn ich da wie dort gewesen wäre, dann hätte mich die kleine allegorische oder moralische Geschichte – mit dem Fingerzeig, man müsse nett zueinander sein, besonders in diesen Vorweihnachtstagen – nicht davon abgehalten, das Folgende nachdrücklich verlauten zu lassen: Klar, auch mir wird es behaglich zu Mute, wenn mir ein Vorurteil bestätigt wird! Unter der grauen, steifen, preußischen Himmelskuppel kann man sich also gar nichts anderes vorstellen als ein gnadenloses, unmenschliches naturwissenschaftliches Experiment mit unmündigen Kindern, oder? Hinter Friedrich dem Großen lauert schon der Doktor Mengele, nicht wahr? Irrtum. Über der erwähnten Anekdote wölbt sich ein blauer, ein heiterer südlicher Himmel, und nicht das Goldene Zeitalter der Aufklärungsepoche, sondern das des Mittelalters wird beschworen. Dass auf seinen Befehl zwei Kleinkinder, noch vor dem Sprechen-Lernen, zwar mit allem Lebensnotwendigen versorgt, aber von aller menschlichen Kommunikation abgeschlossen, heranwachsen sollten – dass den Bediensteten und Zugehfrauen verboten war, zu den Kindern zu sprechen, habe zu ihrem schnellen Tod geführt – diese Anekdote wird zwar über einen Friedrich II. erzählt, aber nicht über den großen Preußen, sondern über den König von Sizilien und späteren deutsch-römischen Kaiser. Friedrich war eher an der Natur als an der Allegorie interessiert, und die wissenschaftliche Neugier trieb ihn stärker an als die Rücksicht auf das kirchliche Dogma. Von ihm hat Europa ein wunderbares Buch über die Falkenjagd geerbt (De arte venandi cum avibus). Na gut, lieber Augen- und Ohrenzeuge, Fehler darf man machen, und eine solche Verwechslung kommt leicht vor in der interkulturellen Kommunikation. (Wobei dies vielleicht der falsche Ausdruck ist, denn Sie und ich leben doch in einer – der europäischen – Kultur, oder irre ich mich? Aber davon später.) Wirklich traurig stimmt mich, dass die Anekdote selbst nichts anderes ist als kirchliche Propaganda gegen diesen Vorläufer der Aufklärung: Der Franziskanermönch Salimbene von Parma verband die Anekdote, die er in alten Schriften gelesen hatte, mit der Person des Kaisers und behauptete, dieser habe auf solch unmenschliche Weise die „Ursprache“ erforschen wollen. Klar, dass dem Papst die Offenheit des Kaisers gegenüber dem damals „modernen“ Islam  nicht gefiel. Tja, ihm wird auch anderes nicht gefallen haben – vielen Menschen gefällt vieles nicht – und trotzdem soll jeder am Weihnachtsfrieden teilhaben!

Aber leben wir wirklich in einer europäischen Kultur? Ja natürlich, sage ich meinen ungarischen Freunden, wenn sie in Frage stellen, warum Griechenland mit Euromilliarden vor dem selbstverschuldeten Staatsbankrott gerettet werden muss. Und warum berichtet dann die westliche Presse kaum davon, dass wir die Schuldenbremse schon in unsere neue ungarische Verfassung geschrieben haben, als der Bundestag darüber noch debattierte? fragen meine Freunde. Stattdessen habe man sich lang und breit über das „Nationale Glaubensbekenntnis“ mokiert und fälschlich berichtet, dass in Ungarn die Republik abgeschafft worden sei (Artikel A des ungarischen Grundgesetzes: „Unsere Heimat heißt Ungarn.“ Gleich der anschließende Satz – Artikel B, Absatz 1: „Ungarn ist ein unabhängiger, demokratischer Rechtsstaat.“ Absatz 2: „Die Staatsform Ungarns ist die Republik.“ Absatz 3: „Die Quelle der Staatsgewalt ist das Volk.“ Absatz 4: „Das Volk übt seine Macht über gewählte Abgeordnete, ausnahmsweise auch direkt aus.“) Selbst Volksabstimmungen also sind bei uns möglich, bei euch in Deutschland träumen doch nur noch ein paar Grüne davon, und die Piraten basteln an ihrer Software.

Ja, aber… (jetzt berufe ich mich auf den Geist statt Geld) …der Geist! Der Geist, in dem euer Grundgesetz ausgelegt und angewendet wird, auf den kommt es doch an! Wer Augen hat zu sehen, der sehe! Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Kopf, blonde Haare, schwarze AugenbindeDie Regierung hat die Kunsthalle der Ungarischen Akademie der Künste übergeben („Auch die hat Verfassungsrang! Siehe Artikel X [römisch 10], Absatz 3!“ höre ich die ungarischen Freunde raunen.). Und deren Präsident will… Halt! da höre ich die deutschen Freunde rufen: Wie hältst du das überhaupt noch aus in diesem Budapest? Der Name schon allein! Mit dem schon Heiner Müller in seiner „Hamletmaschine“ ein wohlfeiles oder wahres Wortspiel trieb: „Die Pest über Buda! Die Pest über Buda!“ Wie der Beginn dieses Briefes schon zeigt, bin ich  – der Nähe des Weihnachtsfestes geschuldet – wohl empfänglich für jedweden vierfachen Schriftsinn: Littera gesta docet, quid credas allegoria, moralis quid agas, quo tendas anagogia. Am Beispiel Jerusalems zeigt Johannes Cassianus, der im 4. Jahrhundert in der Nähe der Donaumündung geboren sein soll, was es damit auf sich hat: Der Name Jerusalem steht im Buchstabensinn für das historische Jerusalem, das, von den Römern zerstört, die Grabstätte Christi beheimatet, im allegorischen oder typologischen Sinn bedeutet Jerusalem die Kirche Christi – also die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Glaubenden. Im moralischen Sinn ist die menschliche Seele darunter zu verstehen und im anagogischen (eschatologischen) Sinn das zukünftige himmlische Jerusalem – auf jede historische Entität kann ich mit Glauben, Liebe und Hoffnung blicken und ihr Sinn geben. Wenn ich mich frage, was Budapest für mich bedeutet, so habe ich schon mit dem literarischen Sinn, der historischen Erscheinung meine Probleme. Ich muss allein daran denken, dass die Orbánregierung plant, den Platz vor dem Parlament in den Zustand von 1942 zurückzuversetzen, um die „historische Kontinuität“ wieder herzustellen (wie das neue ungarische Grundgesetz ja auch die Verfassungen zwischen 1942 und 2011 bewusst ausklammert). In biographischem Sinne: Ich bin mehr als die Hälfte meines Lebens mit dieser Stadt verschwistert – und sie wird mir immer fremder. Jede Leidenschaft ist eine Leidensgeschichte, das Kirchenlied „O Haupt voll Blut und Wunden“ ist die Kontrafaktur des Liebesliedes „Mein G’müt ist mir verwirret“, und die Freude des Weihnachtsfestes ist mit der Passionsgeschichte verknüpft, ganz so wie Johann Sebastian Bach im Weihnachtsoratorium die Melodie von „O Haupt voll Blut und Wunden“ erklingen lässt, genau wie in der Matthäuspassion.

Mein Versuch, über die sowohl im Deutschen wie im Ungarischen bekannte Wortzusammensetzung (Haupt – Hauptstadt / fő – főváros) eine neue Variante des alten Liedes zu schreiben, darf als gescheitert gelten. Immer gerieten mir die vier Sinnebenen durcheinander. Nur zwei Textbeispiele der bisherigen Varianten (erste Strophe):

stummHaupt-Stadt (1)

Oh Stadt voll Schutt und Schrunden
voll Staub, bedeckt mit Schorf
Oh Stadt aufs Blut geschunden
Verworrnes Babeldorf
Oh Stadt, sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr und Zier
Jetzt aber schlimm schimpfieret
Durch Unterschleif und Gier.

Haupt-Stadt (2)

Oh Stadt voll Schutt und Schrunden
voll Staub, erstickt im Stau
Ich hab Dich einst gefunden
im Goldrand, sehnsuchtsblau
Oh Stadt, sonst schön gezieret
Mit höchster Ehr und Zier
Jetzt aber dreist verführet
Durch Unterschleif und Gier.

Aber zurück zur Kunsthalle in Budapest: Die Regierung hat die Kunsthalle der Ungarischen Akademie der Künste übergeben. Und deren Präsident will nur noch gutherzigen Ungarn Ausstellungsraum zur Verfügung stellen. Im Interview antwortet György Fekete auf die Frage, ob in Zukunft nur noch Mitglieder der Akademie ausstellen könnten: „Zuerst einmal: Ein anerkanntes Lebenswerk muss er [der Künstler] schon vorweisen können. Zweitens: mehr als der Durchschnitt am öffentlichen Leben hier teilnehmen. Und er muss drittens einfach ein Nationalgefühl entwickelt haben, die ungarische Nation, die ungarische Sprache in Ehren halten. Er muss sich hier wohl fühlen. Nicht dass einer glaubt, er könne ins Ausland gehen und von dort aus Ungarn herabsetzen… Ich will die Kunsthalle nicht in die Luft sprengen, sondern den Ungarn zurückgeben.“ – Frage: „Sie haben erklärt, dass Sie intervenieren würden, wenn ein besonders skandalträchtiges Werk ausgestellt werden sollte.“ – Antwort: „Ja, damit nicht wieder passiert, was schon passiert ist. Was in der Kunsthalle zuletzt zu sehen war, hat die Sicherungen rausfliegen lassen. [Anspielung auf die Ausstellung 2012 „Mi a magyar?“ – „Was ist der Ungar?“ oder „Was ist das Ungarische?“ Der Kurator Gábor Gulyas – gleichzeitig der bisherige Direktor – steht dem Fidesz nahe. Anm. XING] Es waren Dinge zu sehen, die vom Standpunkt der katholischen und der reformierten Kirche unakzeptabel sind. Wir lassen nicht zu, dass Jesus beleidigt wird.“ – Frage: „Es kommt häufig vor, dass Werke  der zeitgenössischen Kunst die Kritik der Kirchen hervorrufen. Das ist eigentlich nichts Außergewöhnliches. Das wollen sie vermeiden?“ – Antwort: „In staatlichen Institutionen darf es keine Herabsetzung der Kirchen geben. Wir reden von einem auf christlichen Werten beruhenden Ungarn. Man muss nicht ständig und ewig provozieren.“ – Frage: „Staat und Kirche sind einander im Prinzip nicht sehr nah.“ – Antwort: „Beide müssen einander nahe sein, denn ich bin gläubiger reformierter Christ und Presbyter und Präsident der Ungarischen Kunstakademie zugleich. Das wird mir keiner nehmen.“ – Frage: „Aber der Sinn einer modernen Demokratie…“ Antwort: „Auf diese Art von Demokratie pfeife ich. Das ist nicht modern, und das ist keine Demokratie. Das ist deshalb keine Demokratie, weil… weil… eine Minderheit der Mehrheit diktieren will, das ist keine Demokratie, das ist Anti-Demokratie. Und darin werde ich dem Kommunismus, dem Faschismus, dem so genannten Liberalismus, diesem besonderen ungarischen Liber-álismus, meine Achtung versagen.“ – Frage: „Gábor Gulyas [der bisherige Direktor der Kunsthalle] genoss die Unterstützung der Rechten, ihn kann man kaum des Liberalismus verdächtigen.“ – Antwort: „Ich kenne sein Vorleben nicht. Für mich ist das ein Liberaler.“ – Frage: „Ihre Frisur hat – wie viele sagen – bereits eine ikonographische Würde erlangt. Schneiden Sie sich selbst die Haare, oder gehen Sie seit Jahrzehnten zu demselben Friseur?“ – Antwort: „Ich bin vor zwei Monaten achtzig Jahre alt geworden. Diese Frisur trage ich seit 29 und einem halben Jahr, ich gehe nicht zum Barbier, sondern schneide mir die Haare immer selbst, und wenn ich dem Rat meiner Freunde gefolgt wäre und jedes Mal den Preis für das Haare-Schneiden gespart hätte, hätte ich jetzt einen Mercedes, aber den habe ich nicht.“

… und das Nationaltheater ist nach dem Willen der Regierung nicht nur Theater, es hat hauptsächlich nationale Aufgaben. Die rhetorische Figur „Wir geben den Ungarn ihr Nationaltheater zurück.“ kennen wir schon aus Feketes Verlautbarung zur Kunsthalle. Deshalb wird Róbert Alföldi nach fünf Jahren erfolgreicher Intendantur im nächsten Jahr durch Attila Vidnyánszky ersetzt. Kulturkrieg in Ungarn?

Der erste Abschnitt wurde am 19. Dezember 2012 – ohne die den Kontext erläuternden Sätze – als Antwort an die Mailing list „Magyar huzat“ – „Ungarischer Luftzug“ versandt.

Der Löwe und der Pfau

Die Zwitscher-Maschine (Twittering Machine) Paul Klee: Die Zwitscher-Maschine

Kaum denkt man noch daran – aber es gab einmal eine Zeit, da schien König Nobel an einem Pfauen seinen Narren gefressen zu haben. Es hatte dem Löwen gefallen, die Gesetze und Erlasse nicht selbst in Kraft zu setzen, sondern sie in seinem Beisein vom Pfauen unterzeichnen zu lassen. „Wie soll ich sagen,” dröhnte der Löwe, „der Pfau führt die Feder mit der Eleganz eines Florettfechters.” Damals waren Mantel-und-Degen-Filme in Mode. Grund genug für den Pfauen, seine Federn ordentlich zu spreizen. Freilich hatte er Neider. Böse Stimmen verbreiteten das Gerücht, der Pfau schmücke sich mit fremden Federn. Die Höflinge forderten ihn auf, ein Rad zu schlagen. Der Pfau aber wies das von sich: „Ich sitze zur Rechten des Königs. Da habe ich anderes im Sinn als alberne Zirkusstücke.” Die Höflinge verabredeten sich zu einem nächtlichen Überfall auf seine Kammer, um sich in Besitz des Federkleids zu bringen. Aber es kam heraus, dass der Pfau seinen Platz neben dem Thron niemals verließ. Da fasste sich ein Page, ein sehr junger Kater, ein Herz und verkrallte sich in die Pfauenfedern. Der Hofhund wollte es ihm verbieten und stürzte auf ihn zu. Der Kater erschrak und suchte schnell das Weite. Natürlich ein abgekartetes Spiel. Denn der Kater auf der Flucht riss das Federkleid wie ohne Absicht mit sich. Der Pfau stand nackt da: ein mechanisches Räderwerk, ein Schreibautomat, eine Zwitscher-Maschine.

Der Wolf und die Großmutter

In diesem Land will man von Wölfen nichts wissen. Ja schon, wir haben sie. Der König schüttelt unwillig seine Mähne. Wölfe haben keine Bedeutung. Randexistenzen. Behaupten alles zu wissen über die langen Wanderungen. Jetzt hat sich einer an seiner eigenen Großmutter verschluckt, ich bitte Sie. Sollte man nicht doch mal genauer hinsehen, fragt Dr. Bubó, mehr zu sich selbst als zum Löwen gewandt. Es handelt sich doch wohl eher um eine Trübung der Seele als des Verstandes. Ich fresse doch nicht meine eigene Großmutter. Ich auch nicht, sagt der Löwe. Vielleicht eine Art Initiationsritus? Jetzt übertreiben Sie aber, Doktor! Soll sich sein Rudel  drum kümmern. Dr. Bubó  seufzt. In diesem Land will man über Wölfe nichts wissen.

*Dr. Bubó, populäre Trickfilmgestalt im Ungarischen Fernsehen 1974 ff. – Titelmelodie der Serie

Hintergrund: Ungarischer Rechtsextremist entdeckt jüdische Wurzeln (WELT-Online 19. August 2012)
Rechtsextreme Jobbik-Partei in Ungarn – Antisemit entdeckt seine jüdischen Wurzeln (Süddeutsche Zeitung 15.08.2012)

Debatte im Blog „Hungarian Voice“

Die andere Seite

Péter Eszterházy, György Konrád, Claudio Magris (von links nach rechts)

Aus Anlass des XIX. Internationalen Buchfestivals in Budapest wurde am 19. April 2012 die Ausstellung „Widerreden – 50 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“ im Budapester Millenáris eröffnet. Anwesend: drei Preisträger, Péter Eszterházy, György Konrád und Claudio Magris. (Foto: XING)

Claudio Magris, der Ehrengast des diesjährigen Festivals, ist vor allem durch sein Hauptwerk „Donau“ bekannt geworden. Aus Anlass der Verleihung des Budapest-Preises wurde er von der regierungsnahen Zeitung „Magyar Nemzet“ interviewt. Hier lesen Sie große Teile des Interviews in deutscher Übersetzung (Szabolcs Wekerle, Magyar Nemzet 28. April 2012, Seite 23):

„Herr Magris, lassen Sie uns Ihnen zuallererst  zu dem gerade verliehenen Budapest-Preis gratulieren! Was verbindet Sie mit der ungarischen Hauptstadt?”

„Ich fühle mich Budapest und Ungarn sehr stark verbunden. (…) Ungarisch war zum Beispiel die erste Sprache, in die ich übersetzt worden bin: Teile aus meinem Buch Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur erschienen hier zum ersten Mal in einer fremden Sprache. 1964 kam ich zum ersten Mal nach Budapest, dann ein Jahr später, aber richtig oft bin ich in den 70er Jahren hier gewesen. Deswegen kenne ich mich komischerweise besser in der Stadt von gestern aus als in der heutigen – ich bin jetzt wirklich etliche Jahre nicht hergekommen (…). Natürlich fällt mir der unglaubliche Wandel auf, der hier seit dem Systemwechsel vor sich ging, aber in die Menschen kann ich mich nicht in dem Maße hineindenken, wie es damals war.”

„Wie haben Sie das Budapest vor der Wende im Vergleich zu den Hauptstädten der Region empfunden?”

„Es gab einen unglaublichen Unterschied zu den übrigen sozialistischen Ländern – abgesehen natürlich von Jugoslawien, aber das war in vieler Hinsicht eine andere Welt. In Ungarn war nicht nur die Lebensqualität höher als, sagen wir, in Rumanien oder in der DDR: nirgendwo anders im sozialistischen Block wäre es vorstellbar gewesen, dass ich etwas schreibe, und es kann so, wie es ist, erscheinen. Daher war  für mich und meine Freunde, die ähnlich dachten, dieses Ungarn mit seinem Spätsozialismus ein wenig das Land der Hoffnung. Natürlich haben wir alle auf das Ende des Sozialismus als politisches System gewartet, trotzdem meinten wir in diesem System hier die Möglichkeit zu sehen, dass nach der Wende nicht automatisch das universale, normierte angelsächsische Modell zu Stande kommt, sondern irgendetwas anderes, das durch unsere Träume geisterte, was es wert gewesen wäre zu bewahren. Ich glaube, deshalb fühlte ich mich hier so wohl – in den übrigen osteuropäischen Ländern waren die negativen Energien viel, viel stärker.”

„Sie sind Italiener,  trotzdem schwärmen Sie für Mitteleuropa.”

„Das stimmt nicht. Ich schwärme nicht. Mein Interesse ist selbstverständlich. Meine Geburtsstadt Triest war Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, später kam es zu Italien. Diese meine Stadt kenne ich, ich verstehe ihre vielfältige Identität, ich weiß, was es heißt, wenn nur eine einzige Brücke uns mit der Nachbarwelt verbindet, die oft als Übergang genutzt wird, um unsere Lieben zu sehen, aber viel öfter, um uns von den anderen zu trennen. Aber man muss diese Anziehungskraft nicht übertreiben: Das ist meine Geschichte, aber deswegen interessiert mich die spanische, die französische oder sei es auch die karibische Literatur nicht weniger als die italienische oder mitteleuropäische. Weil ich als Mann geboren bin und nicht als Frau, beschäftige ich mich doch nicht ohne Ende mit den Fragen meines Daseins als Mann.”

„Sie sind 1939 geboren. Triest gehörte von 1382 bis 1918 zur Monarchie, 1918 wurde es italienisch, aber in Ihrer Kindheit, zwischen 1948 und 1954, wurde es zu einer Art Konfliktzone zwischen Jugoslawien, das Anspruch darauf erhob, und Italien, das es schließlich zurückgewinnen konnte. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?”

„Es gab einige tragische Momente, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Der erste spielte sich noch während des Krieges ab, als ich so vier , fünf Jahre alt war, die bestürzende Geschichte Krasznovs, der in Friaul, in Ostitalien, einen Kosakenstaat errichten wollte. Das habe ich in meiner Erzählung Mutmaßungen über einen Säbel geschildert. (Anmerkung XING: Näheres zu dieser Staatsidee „Kosakia“ auf einer Seite der Universität Innsbruck)

Aber die Geschichte der kleinen, isolierten Triester Widerstandsbewegung, die gegen Nazis und italienische Faschisten, aber auch gegen die mit slawischem Nationalismus durchtränkten jugoslawische Partisanen kämpfte, habe ich erst später wirklich verstanden. Dagegen erinnere ich mich genau an die Spannungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die eine Hälfte der Stadt unter amerikanischer, die andere Hälfte unter jugoslawischer Verwaltung stand. Meine Stadt war damals tatsächlich Niemandsland, das darauf wartete, dass man einen Gouverneur an die Spitze eines irgendwie gearteten Freistaats stellen würde, aber dazu hätte es einer Einigung der Siegermächte bedurft, was eigentlich nicht zu erhoffen war:  wer für die Russen akzeptabel war, kam für die Amerikaner nicht in Frage, und umgekehrt. Aus dieser Zeit ist mir noch ein sehr starker Eindruck geblieben, ein Bild, ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt, als ich mit einem Freund zur Grenze des jugoslawischen Sektors ging. Das war sehr nah zu unserer Wohnung, es war weniger weit voneinander entfernt als, sagen wir, zwei Mailänder Stadtviertel. Wir blickten hinüber durch den Stacheldraht, wir kannten das Stadtviertel gut, denn früher waren wir oft dort gewesen. Trotzdem war dort jenseits der Grenze eine geheimnisvolle, bedrohliche Welt, in die wir nicht hinüber gelangen konnten und die für mich irgendwie einen mystischen Osten verkörperte. Ich glaube, dort hat mich zum ersten Mal der Zusammenfall von Vertrautheit und Fremdheit berührt, dass etwas mich bedroht und zugleich anzieht. Damals konnte ich das für mich natürlich noch nicht so klar auf den Begriff bringen, aber wahrscheinlich habe ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal  diese Sehnsucht verspürt, die zum Prinzip meiner späteren literarischen Tätigkeit wurde, dass ich nämlich diese andere Seite kennenlernen und auf irgendeine Weise zurückerobern muss. Natürlich nicht in politischem, sondern in geistigem  Sinne.”

„(…) Im Vorwort zur ungarischen Ausgabe Ihres Hauptwerks mit dem Titel Donau von 1992 schreiben Sie darüber, für wie schädlich und scheinheilig Sie den Hochmut des Westens gegenüber den Anderen, sprich: gegenüber Osteuropa halten. Heutzutage glauben noch viele in Ungarn, dass dieser Hochmut weiterhin unverändert existiert.”

„Heute liegt es auf der Hand, dass dieser Hochmut nicht in erster Linie politische Wurzeln hatte, d. h. nicht gegen die Sowjetunion und den von ihr beherrschten Ostblock gerichtet war. Genau diese feindseligen Gefühle herrschen heute zwischen Italienern und Kroaten, zwischen Kroaten und Serben, zwischen Serben und Bulgaren, und so weiter. Der Westen hat immer den Osten als zweitrangig angesehen, aber für genauso unerträglich halte ich auch die an dem Wort Balkan klebenden Assoziationen. Schon Metternich ließ verlauten, jenseits des Wiener Rennwegs fange der Balkan an – und das hat er nicht als Lobeshymne gemeint. Später hörte ich in Deutschland, in dem von Wien ein paar hundert Kilometer westlich gelegenen Ulm genau dasselbe, wo man zu sagen pflegt, dass in Neu-Ulm der Balkan beginne – offensichtlich deshalb, weil sich in der Nachbarstadt mehr Einwanderer niedergelassen haben. Ich halte diese Furcht erregende, sture und aggressive Identitätssuche heute für die größte Gefahr, sie charakterisiert den größten Teil der europäischen Völker. Und dieser Zug zur Endogamie beschädigt nicht nur den Humanismus, verletzt nicht nur die Identität anderer Völker und anderer Menschen, sondern zerstört natürliche auch die Liebe zur eigenen Identität. Es ist nur natürlich, dass ich Triest mehr liebe als Debrecen, genau wie zu meinen Schulfreunden stärkere Bande bestehen als zu den Ihrigen. Das Unglück beginnt dort, wo sich dieses Gefühl mit Feindschaft gegen  die Anderen paart: Jeder Mensch liebt seine eigene Familie, aber seinen Lebensgefährten sucht man in einer anderen Familie. Wenn man nicht so handelt, führt es zur Blutschande, die Blutschande aber führt zum Idiotismus. Diese regressive Neigung besteht auch im politischen Sinne, und sie macht krank. Eine italienische politische Partei kam einmal darauf, dass man auch die Literatur nur auf regionaler Basis rezipieren dürfe. Würde das bedeuten, dass es nur in der Toskana erlaubt wäre, Dante zu lesen, und müsste ein Lehrer, der in einer lombardischen Schule Dantes Werke bespräche, ins Gefängnis? Dante hat von sich gesagt, er habe, während er das Wasser des Arno getrunken, gelernt, Florenz zu lieben. Aber er hat hinzugefügt: Für uns ist die Heimat wie das Meer für den Fisch. Das Meer ist ohne den Arno etwas Abstraktes. Der Arno ohne das Meer ist eine wahnsinnige Inzucht.”

„Am Anfang der Neunziger Jahre glaubten viele an die große europäische Völkerfreundschaft. Halten Sie es für vorstellbar, dass zum Beispiel Ungarn und Slowaken, Ungarn und Rumänen in in idyllischem Frieden miteinander leben?”

„Wenn nicht, dann ist es Selbstmord. Ich träume von einem europäischen Staat, in dem die kleineren europäischen Staaten verschwinden. Dafür gibt es keine gefühlsmäßigen, sondern einzig und allein praktische Gründe. Unsere Probleme heute sind überaus groß, und die Lösungen müssen deshalb großzügig sein. Lächerlich, dass zum Beispiel in Ungarn andere Einwanderungsgesetze gelten als in Italien; genauso lächerlich wäre es, wenn in Triest andere Gesetze herrschten als in Venedig. Wenn heute in Europa ein kleiner Staat kaputt geht, werden alle übrigen zusammenbrechen. Die Einheit Europas ist keine Frage der Brüderlichkeit – anders haben wir keine Chance.”

Zum Lesen empfohlen: Auf der Andenseite

Der Adler und der Goldhamster

Kopf, blonde Haare, schwarze AugenbindeDer Goldhamster, er wusste nicht wie und warum, erfreute sich der besonderen Gunst des Königs Nobel. So kam er, von anderen Höflingen argwöhnisch beäugt, in einem Gefühl (vielleicht) trügerischer Sicherheit seinem eigentlichen Lebenszweck nach: Er hamsterte. Und wie um seinem Namen Ehre zu machen, hamsterte er mit Vorliebe Gold – Gold in jeder Form, als Staub oder Nugget, gegossen in Barren oder geprägt in Münzen – auch Blattgold verschmähte er nicht. Er ging im Palast des Königs ein und aus, und beinahe hätte man gesagt, er fühle sich dort heimisch, wäre nicht an ihm ein gewisses zögerliches Moment, eine sozusagen zeremonielle Steifheit zu beobachten gewesen. Befragt von Hofräten seines Vertrauens, warum er, der doch in der Sonne des Souveräns förmlich bade, sich nicht ein wenig lockerer gebärde, wies er mit zierlicher Geste hinauf zu den Deckengewölben des Königspalastes: „Es ist wegen der vielen scharfen Schwerter, die von der Decke herabhängen.“ Seitdem nannte man ihn in gewissen Kreisen „unseren Damokles“. Dem König kam das zu Ohren, und in einem Anfall von Güte empfahl er seinem Goldhamster eine Sommerfrische auf dem platten Land. „Aber Majestät, unter dem freien Himmel habe ich nur die Angriffe des Adlers oder anderer Raubvögel zu erwarten. Es wäre mein sicherer Tod.“ Da verbot der König in einem Erlass dem Adler und anderen Raubvögeln bei ihrem Leben, die Klauen in den Goldhamster zu schlagen, und gab dies dem Hamster als Schutzbrief mit. Ganz entspannt auf der hart getretenen Erde, auf dem kurz gefressenen Gras der weiten Tiefebene,  genoss unser Goldhamster den Brand der Sommersonne. Da wurde er von einem Stein erschlagen. Mit brechenden Augen erkannte er den Adler, der den Brocken in seinen Klauen aus dem Felsgebirge her getragen und direkt über ihm ausgeklinkt hatte.

Der Löwe sagte: „Der Adler verdient Respekt“ und gab ihm die Aufsicht über das Bankenwesen. Die Bankenaufsicht wurde ins Postministerium eingemeindet, das der Adler nach der Verbannung der Schnecke bereits führte.

Winterhilfswerk

Deutsch: Amtliche Anordnung: Schüler und Lehrer sollen die Hitler Rede zur Eröffung des Winterhilfswerkes 1935 in einer Rundfunkübertragung gemeinsam anhören. Verordnungsblatt des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung vom 5. Oktober 1935 (17. Jg., Nr. 19, S.118)

Amtliche Anordnung: Schüler und Lehrer sollen die Hitler Rede zur Eröffung des Winterhilfswerkes 1935 in einer Rundfunkübertragung gemeinsam anhören. Verordnungsblatt des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung vom 5. Oktober 1935 (17. Jg., Nr. 19, S.118)
Urheber: Holgerjan
Lizenz: http://commons.wikimedia.org/wiki/Commons:GNU_Free_Documentation_License_1.2

2012: Der Winter mit den Minusrekorden. Das bisherige winterkalte Maximum von -12,5°, am 4. Februar 1950 in Nyíregyháza (Nordostungarn) gemessen, wurde zum Jahrestag ebenfalls in Nyíregyháza übertroffen bzw. unterboten: mit -13,2°. Die Zahl der Kältetoten nimmt zu – auf ca. 250 in Europa am Sonntag Abend. Ungefähr die Hälfte davon in der Ukraine, dem östlichen Nachbarn Ungarns. Hier sind es relativ wenige – noch unter 10.  In der vorigen Woche hat die ungarische Regierung sei es gesellschaftliche Solidarität, sei es christliche Nächstenliebe zu einer Sache des  „Nationalen Schulterschlusses“ (Nemzeti összefogás)  gemacht, zunächst in Erklärungen des Staatssekretärs im Innenministerium, Károly Kontrát, und der Beraterin des Premiers, der Soziologin Zsuzsa Hegedűs. Am Freitag dann der Ministerpräsident selber: „Das Land steht vor einer großen Herausforderung: In welchem Maß können wir aufeinander aufpassen und Leben retten, wenn von Obdachlosen, wenn von den Alten, wenn von Alleinstehenden die Rede ist.“ Es stimmt schon: Die Radio-Rede Viktor Orbáns musste (noch) nicht in den Schulen gemeinschaftlich angehört werden. (Noch) ist kein Winterhilfswerk gegründet worden. Das heißt: Es gibt (noch) keine Solis, die zusätzlich zur Steuer vom Bruttolohn abgezogen werden. Unangekündigt, ohne Leibwächter, seinen Kleinbus selbst steuernd, suchte der Ministerpräsident am gestrigen Sonntag ein Obdachlosenasyl in Budapest auf, um sich selbst ein Bild zu machen. Immerhin war die Boulevardzeitung BLIKK informiert. Trotzdem:  Es ist eine fahle, fatale Bühnenbeleuchtung, in die diese an sich sehr anrührenden und hoffentlich auch wirksamen Verlautbarungen und Aktionen getaucht sind. Der Generalverdacht faschistoider Tendenzen sieht sich überall bestätigt: Was unterscheidet die mit 2/3-Mehrheit verabschiedeten „Kardinalgesetze“ von der „Gleichschaltung“? Es hilft nichts: Um eine genaue Analyse kommt man nicht herum.

Der Wanderfalke in der Straßenbahn

<a rel="license" href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/"><img alt="Creative Commons License" style="border-width:0" src="http://i.creativecommons.org/l/by-nc-sa/3.0/88x31.png" /></a><br />This work is licensed under a <a rel="license" href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/">Creative Commons Attribution-NonCommercial-ShareAlike 3.0 Unported License</a>.

Wanderfalke in der Straßenbahn Linie 2 (Foto: XING)

Öffentlich unterwegs zu sein ist das größere Abenteuer. Schnappschuss in der Straßenbahn Linie Nr. 2 – ein Falke auf der Faust eines Mitreisenden. Ein Gerfalke? Wahrscheinlich nicht.  Als Vogel, der in den Tundren Sibiriens, in Grönland und Alaska heimisch ist, dürfte es dem Gerfalken in den ungarischen Sommern zu heiß sein.  Auf Fachsimpeleien mit dem Eigner kann ich mich freilich nicht einlassen, dazu reicht mein Ungarisch nicht. Und „Wanderfalke“ passt auch besser zu „Wanderjahren“ im Titel dieses Blogs… Also ein Wanderfalke, auch dies ein Beizvogel.

Der Vogel trägt keine Haube. Aufmerksam scheint er die draußen vorbei fliegende Stadtlandschaft zu registrieren. Welcher Bilderstrom! „Entschuldigen Sie, darf ich ein Foto machen?“ Den Falken darf ich fotografieren, den Jäger nicht. Sehr reserviert, der Mann: entschlossene Miene, die Mundwinkel zeigen nach unten. Statuenhaft. Wie die markante Gestalt zu Füßen des Königs Matthias, links unten im Ensemble des Jagdbrunnens, zu finden im Burgpalast von Buda.

Mátyás kút

Sie soll  Galeotto Marzio (1427-1497) darstellen, den italienischen Chronisten des ungarischen Königs Matthias Corvinus (Hunyady Mátyás) , Humanist, Arzt und Astronom, der in Padua und Bologna sowie an der von Matthias gegründeten Universität Pressburg lehrte.  Man muss ihn sich als lebensfrohen und schwergewichtigen Menschen vorstellen. Vom Bildhauer wahrscheinlich sehr ins Asketische idealisiert, wirkt die Skulptur in ihrer Kühle und Strenge wie das Vorbild meines Gegenübers in der Straßenbahn. Oder besser: Bei diesem hier ist es eher Verschlossenheit als Strenge, obwohl die Beine – anders als bei der Galeotto-Skulptur – auseinander gestellt sind. Und hinter der kühlen Fassade ist der Eifer zu spüren, mit dem der Mann das Vorbild kopiert. Er wirkt wie gefrorenes Feuer. In den Augen lese ich: „Wir eine Kolonie? Niemals. Abhängig weder von Moskau noch von Brüssel. “ Angesichts von soviel Heroismus muss ich meinen Mut nun ordentlich zu einer Frage zusammenkratzen: „Sólyom ez a madár?“ – „Nem, héja.“ Also kein Falke, sondern ein Habicht.

Der Adler im Aufwind

Nach der Verbannung der Schnecke vom Hofe des Königs befand sich der Adler im Aufwind.
Nicht nur, dass seine Karte des Tierreichs nun in allen Amts- und Schulstuben zwischen dem Staatswappen und dem Glaubensbekenntnis der Tiernation hing. Nein, ihm war auch das Ministerium für Post und Telekommunikation anvertraut worden. Es gab viel zu tun. Rigoros modernisierte er das System der Schneckenpost und ersetzte es durch ein straff organisiertes Netz von Brieftaubenstationen. Jungadler schraubten sich in die Höhe und erspähten jede verdächtige Bewegung auf den gepflasterten Heerstraßen. Eulen wurden als Nachtsichtgeräte an den Grenzen eingesetzt.
Am Hofe flog er ein und aus, er hatte, so sagte man, den direkten Draht zum König. Nur selten weilte er in seinem angestammten Horst, lieber pickte er sich eine Brieftaube heraus und verfolgte ihren Dienstflug aus großer Höhe. Oder er gesellte sich zu einem Jungadler und begleitete ihn auf seinen Kontrollflügen. Manchmal machte er sich den Spaß, des Nachts mit einem Luftballon oder einem flatternden Tuch die Eulen zu erschrecken. Er schien überall gleichzeitig zu sein. Bald nannte man ihn „Das Auge des Königs Nobel”.
Eines schönen blauen Tages nutze er einen Steigwind, wie er ihn noch nie erlebt hatte, und er gelangte höher hinauf als jemals. Da begegnete er Gott. Gott war wie… wie sollte er es beschreiben? Gott segelte ruhig dahin. Die starren, weit ausgespannten Flügel, auch die Schwanzfedern wie der langgestreckte Körper, alles war aus einem glatten, weiß schimmerndern Material. Die Flügelspitzen zitterten leicht in einer geheimen Spannung, in gelassener Kraft, so wollte ihm scheinen. Vorn lief der Körper in eine glatte gläserne Kuppel aus, ein riesiges Auge. Mit den Schwingen rudernd, hielt der Adler gleiche Höhe und starrte in dieses Auge. Im Innern des Glaskörpers blickte er in zwei weitere Augen, und darin spiegelten sich seine eigenen Augen…
Da fasste der Adler den Entschluss, den König der Tiere zu stürzen.

Die Schnecke auf der Landkarte

Der Löwe befahl, das Reich der Tiere auf einer Landkarte zu verzeichnen. Der Adler legte seinen Entwurf vor.

Die Schnecke kroch darauf herum: „So kurz sollen die Wege sein in Deinem Reich, mein König? Man merkt: Der Entwurf stammt von einem, der den Staub der Landstraße zu fressen nicht nötig hat. Und der Stein, der mir gestern im Wege lag, als ich Deinem Hofe zustrebte, ist auch nicht eingezeichnet.“

„Dafür aber deine Schleimspur von hier ins Exil!“ höhnte der Löwe und wischte die Schnecke mit einem Hieb seiner Pranke beiseite. Und zum Hofstaat gewandt: „Der Adler hat eben die beste Klaue!“

Bild: Schneckenkönig mit Begleitschnecke

Patchwork

Patchwork //// Ungarn-Nachrichten im Januar 2011.  Ein geneigter Leser schickt mir – auf anderem Wege, er ist kein Blogger – folgende Zeilen:

„Was Ungarn vernäht,
will ich nicht versäumen.“

Danke, T.F., das Wortspiel hilft, dem Wettkampf zwischen Nähmaschine und Schreibmaschine aus einer dadaistischen Ecke zuzuschauen.