Energiestoß für den Engel der Geschichte ( Wieder gelesen: Krieg und Frieden # 4 )

Kurz vor dem Einschlafen wieder Tolstoi. Der Beginn des Neunten Teils von „Krieg und Frieden“. Am 12. Juni 1812 wurde die rote Linie überschritten, die zweite Grande Armée unter Napoleon drang nach Russland ein. Leo Tolstoi hebt die Unmöglichkeit hervor, die Gründe für das Handeln der Akteure zu erkennen, egal ob auf der Makro- oder der Mikro-Ebene. Weil es Millionen und Abermillionen von Gründen gebe. Das epische Panorama – in der deutschen Übersetzung 1.598 Seiten – bringt der Autor hier auf die Kurzformel vom Fatalismus in der Geschichte.

Für uns Nachfahren, die wir keine Historiker sind, die wir uns durch den Forschertrieb nicht hinreißen lassen und deshalb die Ereignisse mit ungetrübten, gesunden Sinnen überschauen, stellen sich die Gründe für diesen Krieg in ungezählten Mengen dar. […] Solche Gründe, wie die Weigerung Napoleons, seine Truppen hinter die Weichsel zurückzuziehen oder das Herzogtum Oldenburg wieder herauszugeben, erscheinen uns wie der Wunsch oder die Weigerung des ersten besten französischen Korporals, zum zweiten Mal wieder in den Militärdienst einzutreten, denn wenn er nicht den Wunsch gehabt hätte, wieder einzutreten, und ein zweiter, ein dritter, ein tausendster Korporal oder Soldat seinem Beispiel gefolgt wäre, so hätte Napoleons Armee um soviel weniger Mannschaften gehabt, und der Krieg wäre unmöglich gewesen.

Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Neunter Teil, Kapitel 1. München (Winkler) 1956, Seiten 825-826.

Dann vor dem Aufwachen ein Traum. Dunkel, vom Hafen her erhellt. Eine ältere (alte?) Frau steigt mit kräftigen Schritten die Treppe zur Stadt hinan. Sie schleppt zwei große, prall gefüllte Tragetaschen, obwohl es dunkel ist, meine ich zu erkennen, dass diese aus kariertem Kunststoff bestehen. Die Schritte der Frau auf der Treppe hallen durch das Dunkel, sie trägt Schuhe mit harten (breiten, hohen) Absätzen. Oder sind es Stiefel? Früher hätte ich gesagt: „Mütterchen Russland“. Sie geht die Treppe, she walks her line. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, wird ein Kinderwagen die Stufen herunter ticken. Die steinernen Löwen werden sich erheben und ein Gebrüll anstimmen. Von oben wird die zaristische Soldateska im Kordon, schießend und die Gewehre immer wieder ladend, in die Menge schießend, die Treppe säubern.

Der Tiger springt ins Vergangene, der Film läuft rückwärts. Den Engel der Geschichte weht es von uns weg. Er entfernt sich, bleibt uns aber zugewandt. „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ (Walter Benjamin)

Wieder gelesen: Krieg und Frieden #2

Pierre nach seinem Auftritt im Hause Anna Pawlownas, bei dem er Bonaparte fast schon wie Heinrich Heine als Hüter der Revolution und berittenen Weltgeist verteidigt hatte, nun im Gespräch unter vier Augen. Seinem Freund, Fürst Andrej, antwortet er auf die Frage, ob er sich schon bei der Gardekavallerie gemeldet habe: „Wir haben jetzt Krieg gegen Napoleon. Wenn das ein Kampf für die Freiheit wäre, dann könnte ich es verstehen und träte als erster in den Kriegsdienst. Aber England und Österreich gegen den größten Menschen auf der Welt zu helfen… nein, das ist nicht schön.“ Fürst Andrej, befremdet ob dieser Naivität: „‚Wenn alle Menschen nur nach ihrer Überzeugung kämpften, dann gäbe es keinen Krieg‘, sagte er. ‚Das wäre ja gerade sehr schön‘, entgegnete Pierre. Fürst Andrej lächelte. ‚Schon möglich, daß es schön wäre, aber das wird nie geschehen.‘ ‚Na, warum gehen Sie denn in den Krieg?‘ fragte Pierre. ‚Weswegen? Man muß eben. Außerdem gehe ich…‘ Er hielt inne. ‚Ich gehe deshalb, weil das Leben, das ich hier führe, weil dieses Leben – mir nicht paßt.'“

Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Erster Teil, Kapitel 6. Übersetzung Marianne Kegel. München 1956.

Der Koloss. Francisco de Goya zugeschrieben.

Wieder gelesen: Krieg und Frieden #1

Ein Monster bedroht Europa, ein Mörder, ein Bösewicht. Anna Pawlowna Scherer hustet und behauptet, die Grippe zu haben. >>> Sprung ins Jetzt: Wie, nicht Corona? Nein, Grippe<<< Ein Modewort, benutzt nur in den höchsten Kreisen. Ihre Einladung zur Abendgesellschaft wird man trotzdem nicht ausschlagen, ihr, der Vertrauten der Maria Fjodorowna, der höchsten Frau, Gattin des Zaren. Nicht nur die Einladungskarte ist französisch, auch die Konversation mit dem Gast, der vor den anderen kommt, um früher gehen zu können, ist mit französischen Floskeln durchsetzt. „Eh bien, mon prince.” Der Fürst soll bestätigen, daß es zum Krieg kommt, und nicht „alle Schandtaten und Grausamkeiten dieses Antichristen in Schutz nehmen.” Der Fürst demonstriert Kälte und Langeweile, ein scharfer Kontrast zum gespielten Enthusiasmus der Palowna. Fürst Wassilij, in lässigem Ton: „Was soll ich sagen?” Berater, Analysten, Strategen, wer auch immer, „man ist zu der Ansicht gelangt, dass Bonaparte seine Schiffe hinter sich verbrannt hat” >>> Sprung ins 21. Jahrhundert: Muß man ihm dann nicht Brücken bauen? Ihn vom Baum herunterholen, auf den er geklettert ist? Wer holt den bloß aus dieser Nummer wieder heraus? <<< „und ich glaube, wir sind im Begriff, die unsrigen ebenfalls zu verbrennen.” Machinationen, Kabinettstückchen. Die Palowna kommt in Fahrt. Er, Fürst Wassilij, soll nicht mit Österreich kommen. „Österreich wollte den Krieg niemals und will ihn auch jetzt nicht. Es verrät uns. Rußland allein muß der Retter Europas werden. Unser kaiserlicher Wohltäter kennt seine Berufung und wird ihr treu bleiben.” England versteht das nicht. Krämerseelen. Preußen? Hat schon klein beigegeben, „hat erklärt, Bonaparte sei unbesiegbar, ganz Europa könne nichts gegen ihn ausrichten…” >>> Fall ins Heute: Halt, Stopp! In welchem Monumentalfilm bin ich hier eigentlich? <<< „Cette fameuse neutralité prussienne… Ich setze all mein Vertrauen nur auf Gott und auf die hohe Bestimmung unseres lieben Kaisers. Er wird Europa retten!…”

>>> Und dann, der geniale Tolstoi, bricht das Pathos seiner Figur: „Sie hielt plötzlich inne und lächelte spöttisch über ihre eigene Erregung.” <<<

Zitate:

Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Übersetzung Marianne Kegel. München 1956.

Der Insulaner #1

„Wir alle sind Insulaner.“ Der letzte Satz auf Seite 241. Diese Lektüre passt in unsere Zeit. Zwei Wochen vor Weihnachten, in einem Anfall von Regression, las ich noch etwas anderes. Drei Jugendromane von Enid Blyton, ich weiß nicht zum wievielten Mal, darunter „Die Insel der Abenteuer“. In allen dreien, auch in der „Burg“ und in dem „Tal der Abenteuer“, geht es vor allem darum, den Zugang zu einem scheinbar hermetisch abgeschlossenen Raum zu finden. Die „Insel“ ist von heftig umbrandeten Klippen umgeben, und es braucht einen gewieften Skipper, um die Lücke zu passieren. Das Bergwerk auf der Insel ist aber auch durch einen Stollen unter dem Meeresboden erreichbar. Den abwärts führenden Treppengang dorthin verschließt eine Kellertür, die hinter gestapelten Kisten verborgen ist.

Es wirkt wie ein bedeutsamer Zufall, dass ich danach das Buch von Gavin Francis geschenkt bekam. Es war aber bedachtsam gewählt. Die Tochter hatte es im Gepäck. Sie kam von Berlin herüber und unterbrach die Selbstisolation ihrer Eltern. Das ungarische Wort dafür, elszigetelés, bewahrt in seinem Stamm noch die Herkunft von sziget, die Insel. Ausgesetzt wie Alexander Selkirk, interniert wie Napoleon auf Elba sind wir freilich nicht. Aber wir wägen Risiko und Ertrag ab und verzichten deshalb auf manche aushäusige Aktivität.

Das Manuskript, so der Autor im Vorwort, war seit fünf Monaten fertig, als die COVID19-Pandemie ausbrach. Für ihn ist die Leidenschaft, alte Inselkarten (oder die Kopien davon) zusammenzutragen, Ausdruck seiner individuellen Biographie. Phasen von Vernetzung, Kooperation und Unrast in den Großstädten wechseln ab mit dem Rückzug auf eine Insel und der Reduktion der sozialen Kontakte. In einer oft abweisenden natürlichen Umgebung kommt er zur Ruhe.

Die Kunst besteht darin, die Balance zu halten. Selbstfindung gelingt weder hier noch dort allein, sondern in der Bewegung. Kein Sprung von Insel zu Insel, sondern der Lebensdrift anheimgegeben. So treibt der Gedankengang von Zitat zu Zitat, von Reminiszenz zu Reminiszenz, und oft kehrt er zu einer Impression oder Erkenntnis zurück, diese noch tiefer auslotend. Die Textstruktur gleicht deshalb selbst Inselgruppen oder Archipelen, ja, fast scheinen die Absätze dem Narrativ von schwimmenden Inseln zu entsprechen, die einmal kartographisch erfasst, von späteren Seefahrern nicht mehr gefunden werden. Ein anderer Ausdruck für Intertextualität.

Statt an Plinius‘ magischen schwimmenden Inseln war Annie Dillard eher an echten schwimmenden Inseln interessiert, an dahingleitenden Mangroven-Verbünden, die sie in Florida und den Gewässern rings um die Galapagosinseln beobachtet hatte. „Sie treibt taumelnd und haltlos vor dem Wind,“ schrieb sie über eine Mangroveninsel. „Wahrscheinlich wird sie über den fremden Ozean driften, sich nähren von Tod und Wachstum, auf ihrem Weg provisorischen Boden einfangen, mit Krabben zwischen den Zehen und Seeschwalben im Haar.“

Annie Dillard, Teaching a Stone to Talk, Edinburgh: Canongate 2016. Zitiert nach Gavin Francis, Inseln, 238.

Das gedruckte Buch enthält viele Zitate und Reproduktionen von historischen Karten. Die topographischen Angaben lassen sich manchmal leider auch mit der Lupe nicht lesen; vielleicht sind sie auf dem Bildschirm, wenn sie im E-Book angezoomt werden, besser zu entziffern.

Gavin Francis, Inseln : Die Kartierung einer Sehnsucht. Köln: Dumont 2021 <Island Dreams. Mapping an Obsession. Edinburg: Cannongate 2020. Aus dem Englischen von Sofia Blind>.

Wie eins ins andere greift # 8

Jemand aus Leo Läufers Korona (laut DUDEN ugs. für „fröhliche Runde“) stellt die Frage, warum ich mir für das Video (Wie eins ins andere greift # 7) die Haare toupiert hätte. Habe ich nicht. Sie standen mir zu Berge, wahrscheinlich irgendeiner Elektrostatik wegen (Schlurfen mit Turnschuhen über die Iso-Matte oder so). Also kein Grund, das Video zu löschen. Kein ästhetischer jedenfalls. Das wäre eher der Fall, wenn ein Konzept dahinter stecken würde. Zum Beispiel, in der Reihe ##### einmal einen Aussetzer zu produzieren.

Auf NDR-Kultur laufen gerade in „Am Morgen vorgelesen“ neue Erzählungen von Murakami Haruki (Titel der Sammlung: „Erste Person Singular“, übersetzt von Ursula Graefe, sieben Tage online). In „With the Beatles“ gibt es einen zentralen Hinweis auf den posthum erschienenen Text

„Die Zahnräder“ von 芥川 龍之介 (Akutagawa Ryūnosuke)

Eigentlich geht es um das Album „With the Beatles“. Erinnerungen eines alten Mannes. Im dunklen Gang seiner Schule in Kobe war mit schwingendem Rock ein gleichaltriges Mädchen an ihm vorbeigelaufen, die LP „With the Beatles“ an die Brust gedrückt. Er hatte sie nicht angesprochen und nicht wiedergesehen. Jahre später entdeckt er die LP in einem New Yorker Plattenladen, mit einem Cover, das er nicht kennt. Er kann sich nicht entschließen, dafür 35 Dollar zu zahlen. Der Ich-Erzähler versucht die Mädchengestalt zu imaginieren und bedauert dann doch, so geizig gewesen zu sein. Am nächsten Tag sucht er das Antiquariat wieder auf. Er findet die LP nicht wieder, und der Inhaber behauptet, diese sei nie durch seine Hände gegangen (Aussetzer # 1). Aufgewühlt erinnert sich der Erzähler an die Klangtapete der Beatles-Songs in jenen Jahren und an seine erste Freundin, eine Mitschülerin aus seiner Klasse. Er ist mit ihr an einem Sonntagvormittag verabredet, wie er meinte, aber sie ist nicht zu Hause. Später behauptet sie, er habe sich eine Woche zu früh eingestellt (Aussetzer # 2). An ihrer Stelle öffnet der ältere Bruder, zerzaust und wohl gerade erst aufgestanden, der den Erzähler ins Wohnzimmer bittet. Sie werde wohl bald kommen. Der Erzähler nimmt den angebotenen Kaffee nicht an, kann sich aber der stockenden Konversation nicht entziehen. Der Bruder fragt den Erzähler, ob er das kenne: eine Diskontinuität im Zeitablauf, ohne dass Alkohol oder andere Drogen im Spiel sind. Er habe hin und wieder solche Erscheinungen (Aussetzer # 3). Er nutzt nicht das Wort „Filmriss“ oder ähnlich, sondern vergleicht seine Erfahrung mit einer Mozart-Symphonie, die unvermittelt aus dem zweiten Satz an eine Stelle des dritten Satzes springt, ohne dass der Sprung selbst durch einen Misston, ein jaulendes Geräusch von der Nadel auf der Platte oder so, markiert würde. Der Bruder befürchtet manchmal, in diesen geistigen Abwesenheiten die Selbstkontrolle zu verlieren und vielleicht jemandem mit einem Hammer den Schädel einzuschlagen. Er war auch schon in Behandlung deswegen. Unserem Ich-Erzähler wird es unbehaglich, er will nun wirklich gehen, aber der Bruder beschwichtigt ihn und stellt das baldige Erscheinen der Familie in Aussicht, mit der die Schwester unterwegs ist. Er lässt den Besucher allein warten. Dem wird klar, warum seine Freundin so wenig über ihren älteren Bruder sprechen wollte. Er wühlt in seinem Rucksack nach Lesbarem, um sich die Zeit zu vertreiben, und findet nur das Schullesebuch mit japanischer Literatur. Schulbücher sind immer dabei, um gemeinsames Lernen für das Treffen mit seiner Freundin vorschützen zu können. Der Bruder taucht mit einer frisch gebrühten Tasse Kaffee wieder auf, unser Freund lehnt wieder ab. Da greift wirklich nicht eins ins andere. Überraschend bittet der Bruder darum, sein Gegenüber möge ihm etwas vorlesen. Der wählt nach einigem Zögern einen Ausschnitt aus den Zahnrädern. Lob für den Vorleser. Der Bruder lässt sich über den begabten Akutagawa aus, der seinem Leben unter dem Druck seiner Halluzinationen ein Ende gesetzt hatte. Zu denen die Bilder von Zahnrädern gehörten, die sich ihm fortwährend ins Blickfeld schoben. Die Prosaskizze endet mit den Sätzen: „Ich habe nicht mehr die Kraft weiterzuschreiben. Es ist eine unsägliche Qual, mit diesem Gefühl zu leben. Findet sich denn niemand, der mich im Schlaf sacht erdrosselt?“

So zitiert bei Murakami. Die beiden jungen Männer lauschen diesem Satz nach. Jahrzehnte später wird der Ich-Erzähler in Tokyo auf der Straße von einem Fremden angesprochen. Er erkennt in ihm den älteren Bruder seiner ersten Freundin. Na, und hier bricht die Nacherzählung ab (Aussetzer # 4). Selber lesen oder hören!

Abstraktion, Guilotine – Zu Albert Camus „Die Pest“ (8)

Zweites Gespräch zwischen dem Arzt Rieux und dem Journalisten Rambert. Er war von seiner Pariser Redaktion nach Oran geschickt worden, um für einen Bericht über die Lebensbedingungen der Araber zu recherchieren. Jetzt will er die gesperrte Stadt verlassen, weil er sich nicht zugehörig fühlt. Das lässt Rieux nicht gelten. Rambert will wider alle Berufsbarrieren, die den Arzt beschränken, ein Attest, eine Bescheinigung, dass er nicht an der Pest leidet, um die offizielle Genehmigung zur Ausreise zu erhalten. Das kann der Arzt nicht verantworten. Für den Grund, dass Rambert das Glück mit seiner Geliebten in Paris sucht, äußert er Verständnis. Dennoch bleibt er hart. „Ich kann Ihnen diese Bescheinigung nicht ausstellen, weil ich in Wahrheit tatsächlich gar nicht weiß, ob Sie die Krankheit haben oder nicht, und weil es mir in diesem Fall sogar unmöglich wäre zu bestätigen, dass Sie nicht angesteckt werden, während Sie von meinem Untersuchungszimmer zur Präfektur gehen.“ [S. 52] Die Weigerung trägt ihm den Vorwurf ein, nur abstrakt über Menschenschicksale zu entscheiden. Heute brachte Dr. Wiemer vom Robert-Koch-Institut den zweifelhaften Wert eines Corona-Immun-Ausweises zur Sprache, solange die Wissenschaft noch so wenig über die Infektionsverläufe weiß.

Journalisten haben abstrakte Wahrheiten nicht gern – Zu Albert Camus „Die Pest“ (7)

Oran und anderswo, 26. April 2020. Ziemlich am Anfang des Romans meldet sich bei Dr. Rieux der Journalist Raymond Rambert. Angeblich recherchiert er für eine große Pariser Zeitung über die arabische Bevölkerung in der Kolonie. Wie viele Araber es in Oran gibt, erfährt der Leser nicht. Die Hafenstadt, die noch nichts von der Pest weiß, liegt an der algerischen Mittelmeerküste. Der Gesundheitszustand sei nicht gut, sagt Rieux. Bevor er weiterspricht, fragt er nach dem Spielraum des Journalisten, nach seiner Freiheit, „die Wahrheit [zu] schreiben“. – „Natürlich“ dürfe er das, ist die Antwort. – „Ich meine, dürfen Sie selbst vernichtend urteilen?“ – „Nein, das freilich nicht. Aber ich nehme an, ein solches Urteil wäre unbegründet.“ Rieux erwiderte sanft, gewiss wäre eine solche Verurteilung unbegründet. Er habe […] nur erfahren wollen, ob Rambert rückhaltlos Bericht erstatten könne. „Für mich gibt es nur eine bedingungslose Stellungnahme. Ich kann also ihre Erklärungen nicht mit Auskünften unterstützen.“ – „So spricht Saint-Just“, sagte der Journalist lächelnd. Ohne die Stimme zu erheben, erwiderte Rieux, das wisse er nicht; aber so spreche ein Mensch, der genug habe von der Welt, in der er lebe, der aber seine Mitmenschen liebe und entschlossen sei, für seine Person Ungerechtigkeit und Zugeständnisse abzulehnen. Rambert zog die Schultern hoch und blickte den Arzt an.“ [10]

Ordnungen des Wissens. Der dunkle Hinweis auf Saint-Just irritiert mich (Xing). Camus‘ Tagebuch [Fünftes Heft, im Herbst 1945] verzeichnet im Zusammenhang mit der Arbeit an dem Roman ein Saint-Just-Zitat: „Ich glaube also, dass wir der Begeisterung bedürfen. Das schließt keinesfalls den gesunden Menschenverstand und die Besonnenheit aus.“ [328]* Setzen wir statt „Begeisterung“ andere Emotionen, wie z. B. „Empörung“ oder „Zynismus“, macht es einen Sinn. Der Arzt bewahrt sich sein persönliches Berufsethos. Die Frage nach dem Gesundheitszustand der Nomaden muss wissenschaftlich beantwortet werden. Mit einer Antwort aus der Perspektive des Helfers will er sich nicht zum Werkzeug einer Reportage machen lassen, von der man nicht weiß, welchen Zwecken sie dient. Rieux wird keine Anklage und keine Apologie des Kolonialismus unterstützen. Wenn die Virologin heute zu den Lockerungen der Social-distance-Maßnahmen kritisch anmerkt, sie fürchte einen neuen Anstieg der Fallzahlen, dann kann sie sich auf ihr Fachwissen berufen. Aber als Staatsbürgerin wird sie beim Abwägen der Men­schenrechte gegeneinander zugeben müssen, dass man kein Grundrecht, auch das Recht auf Leben nicht, absolut setzen darf. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble weist heute zurecht darauf hin, dass der Staat die Menschenwürde zu achten und schützen hat. Und zur Würde des Menschen gehört unbedingt auch die Freiheit.

*Zitiert wird aus: Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951. Neuausgabe. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt

Wer darf es aussprechen? Zu Albert Camus „Die Pest“ (6)

„Zu Hause: Der Ort, wo uns eine Tasse heißer Tee verzaubert“ [Korona-Würfelzucker]

Am nächsten Tag gibt es Entwarnung. Kaum noch tote Ratten. Eine präzise Beobachtung. Für die Xing sich aus dem aktuellen Nachrichtenstrom einen Begriff herausfischt: Herdenimmunität! Wir wandeln uns angesichts von Corona alle zu Hobby-Immunologen. Was ist aber, wenn die Rattenpopulation nur als Zwischenwirt für die Erreger gedient hat? Weshalb haben die Rattenindividuen die Nähe der Menschen gesucht, um sich vor ihren Augen einmal um sich zu drehen und zu krepieren? Das sind die Leerstellen, für die wir die Literatur so lieben. Nur Journalisten versuchen alles zu erklären. Noch spricht niemand von einer Epidemie. „An diesem Mittag, als Dr. Rieux vor seinem Hause vorfuhr, bemerkte er den Hauswart, der an der Straßenecke mühsam vorwärtstaumelte, den Kopf gesenkt hielt und wie eine Marionette Arme und Beine spreizte. Der alte Mann stützte sich auf einen Priester, den der Arzt kannte. Es war Pater Paneloux […]. Rieux wartete auf die beiden. Der alte Michel hatte glänzende Augen und einen pfeifenden Atem. Er hatte sich nicht wohl gefühlt und einen Augenblick an die frische Luft gehen wollen. Aber heftige Schmerzen im Hals, in den Achselhöhlen und in den Leisten hatten ihn gezwungen, umzukehren und die Hilfe von Pater Paneloux zu beanspruchen. ‚Es sind Geschwülste‘, sagte er. ‚Ich werde mich wohl überanstrengt haben‘. Der Arzt streckte den Arm aus dem Wagen und betastete Michels Hals; dort hatte sich ein holziger Knoten gebildet. ‚Gehen Sie zu Bett, messen Sie die Temperatur, ich komme heute Nachmittag vorbei‘. Als der Hauswart gegangen war, fragte Rieux den Pater, was er von dieser Rattengeschichte halte. ‚Oh‘, sagte der Pater, ‚es wird eine Epidemie sein‘, und seine Augen lächelten hinter den runden Brillengläsern.“ [13]

Ordnungen des Wissens: Es überrascht, dass nicht der Kliniker als erster die Seuche feststellt, nicht der Mediziner, sondern der Theologe, allerdings ein besonderer Gottesmann, „ein gelehrter, militanter Jesuit, der in unserer Stadt sogar von den religiös Gleichgültigen sehr geschätzt wurde.“ [13] Es braucht eine besondere Freiheit dazu, anzuerkennen, was ist. Die Freiheit, in der alle Systeme auf einen Nenner gebracht werden.