Napoleons Geschichtsschreiber Thiers sagt, indem er seinen Helden zu rechtfertigen sucht, daß Napoleon gegen seinen Willen zu den Mauern Moskaus hingelockt worden sei […]. Er hat ebenso recht wie alle jene Historiker, die geschichtliche Ereignisse aus dem Willen eines einzelnen Menschen zu erklären versuchen, ebenso recht wie jene russischen Geschichtsschreiber, die da behaupten, Napoleon sei durch die Kunst russischer Feldherren nach Moskau gelockt worden. Hier spielen außer dem Gesetz des nachträglichen Hineindeutens auch noch die Wechselbeziehungen mit hinein, die alles noch mehr verwirren. Ein guter Schachspieler ist, wenn er eine Partie verloren hat, fest überzeugt, daß dieser Verlust durch einen Fehler seinerseits verursacht ist, und sucht diesen Fehler am Anfang seines Spiels. Aber er denkt nicht daran, daß im Verlauf des ganzen Spiels bei jedem Zug solche Fehler gemacht worden sind, und daß auch nicht ein einziger Zug ganz fehlerfrei gewesen ist. Und gerade der Fehler, auf den er seine Aufmerksamkeit lenkt, fällt ihm nur deshalb auf, weil der Gegner Vorteil daraus gezogen hat. Um wieviel verwickelter aber ist nun das Spiel eines Krieges, das unter gewissen zeitlichen Bedingungen abrollt und wo nicht ein einziger Wille leblose Marionetten lenkt, sondern alles, was sich ereignet, dem Zusammenfluß zahlreicher, mannigfaltiger Willkürlichkeiten entspricht.
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Zehnter Teil, Kapitel 7. München (Winkler) 1956, Seiten 972-973.
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einzuziehn, sich ihrer entladen; Jenes bedrängt, dieses erfrischt; So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich preßt, Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.
Kurz vor dem Einschlafen wieder Tolstoi. Der Beginn des Neunten Teils von „Krieg und Frieden“. Am 12. Juni 1812 wurde die rote Linie überschritten, die zweite Grande Armée unter Napoleon drang nach Russland ein. Leo Tolstoi hebt die Unmöglichkeit hervor, die Gründe für das Handeln der Akteure zu erkennen, egal ob auf der Makro- oder der Mikro-Ebene. Weil es Millionen und Abermillionen von Gründen gebe. Das epische Panorama – in der deutschen Übersetzung 1.598 Seiten – bringt der Autor hier auf die Kurzformel vom Fatalismus in der Geschichte.
Für uns Nachfahren, die wir keine Historiker sind, die wir uns durch den Forschertrieb nicht hinreißen lassen und deshalb die Ereignisse mit ungetrübten, gesunden Sinnen überschauen, stellen sich die Gründe für diesen Krieg in ungezählten Mengen dar. […] Solche Gründe, wie die Weigerung Napoleons, seine Truppen hinter die Weichsel zurückzuziehen oder das Herzogtum Oldenburg wieder herauszugeben, erscheinen uns wie der Wunsch oder die Weigerung des ersten besten französischen Korporals, zum zweiten Mal wieder in den Militärdienst einzutreten, denn wenn er nicht den Wunsch gehabt hätte, wieder einzutreten, und ein zweiter, ein dritter, ein tausendster Korporal oder Soldat seinem Beispiel gefolgt wäre, so hätte Napoleons Armee um soviel weniger Mannschaften gehabt, und der Krieg wäre unmöglich gewesen.
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Neunter Teil, Kapitel 1. München (Winkler) 1956, Seiten 825-826.
Dann vor dem Aufwachen ein Traum. Dunkel, vom Hafen her erhellt. Eine ältere (alte?) Frau steigt mit kräftigen Schritten die Treppe zur Stadt hinan. Sie schleppt zwei große, prall gefüllte Tragetaschen, obwohl es dunkel ist, meine ich zu erkennen, dass diese aus kariertem Kunststoff bestehen. Die Schritte der Frau auf der Treppe hallen durch das Dunkel, sie trägt Schuhe mit harten (breiten, hohen) Absätzen. Oder sind es Stiefel? Früher hätte ich gesagt: „Mütterchen Russland“. Sie geht die Treppe, she walks her line. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, wird ein Kinderwagen die Stufen herunter ticken. Die steinernen Löwen werden sich erheben und ein Gebrüll anstimmen. Von oben wird die zaristische Soldateska im Kordon, schießend und die Gewehre immer wieder ladend, in die Menge schießend, die Treppe säubern.
Der Tiger springt ins Vergangene, der Film läuft rückwärts. Den Engel der Geschichte weht es von uns weg. Er entfernt sich, bleibt uns aber zugewandt. „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ (Walter Benjamin)
Pierre nach seinem Auftritt im Hause Anna Pawlownas, bei dem er Bonaparte fast schon wie Heinrich Heine als Hüter der Revolution und berittenen Weltgeist verteidigt hatte, nun im Gespräch unter vier Augen. Seinem Freund, Fürst Andrej, antwortet er auf die Frage, ob er sich schon bei der Gardekavallerie gemeldet habe: „Wir haben jetzt Krieg gegen Napoleon. Wenn das ein Kampf für die Freiheit wäre, dann könnte ich es verstehen und träte als erster in den Kriegsdienst. Aber England und Österreich gegen den größten Menschen auf der Welt zu helfen… nein, das ist nicht schön.“ Fürst Andrej, befremdet ob dieser Naivität: „‚Wenn alle Menschen nur nach ihrer Überzeugung kämpften, dann gäbe es keinen Krieg‘, sagte er. ‚Das wäre ja gerade sehr schön‘, entgegnete Pierre. Fürst Andrej lächelte. ‚Schon möglich, daß es schön wäre, aber das wird nie geschehen.‘ ‚Na, warum gehen Sie denn in den Krieg?‘ fragte Pierre. ‚Weswegen? Man muß eben. Außerdem gehe ich…‘ Er hielt inne. ‚Ich gehe deshalb, weil das Leben, das ich hier führe, weil dieses Leben – mir nicht paßt.'“
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Erster Teil, Kapitel 6. Übersetzung Marianne Kegel. München 1956.
Schwierigkeiten mit der gendergerechten Schreibweise: Umlaute verlangen die Doppelung. „Grafen und Gräfinnen.“ – „Redakteur:innen“ gehen durch, aber „Törinnen und Toren“ müssen sich spreizen.
„Wir alle sind Insulaner.“ Der letzte Satz auf Seite 241. Diese Lektüre passt in unsere Zeit. Zwei Wochen vor Weihnachten, in einem Anfall von Regression, las ich noch etwas anderes. Drei Jugendromane von Enid Blyton, ich weiß nicht zum wievielten Mal, darunter „Die Insel der Abenteuer“. In allen dreien, auch in der „Burg“ und in dem „Tal der Abenteuer“, geht es vor allem darum, den Zugang zu einem scheinbar hermetisch abgeschlossenen Raum zu finden. Die „Insel“ ist von heftig umbrandeten Klippen umgeben, und es braucht einen gewieften Skipper, um die Lücke zu passieren. Das Bergwerk auf der Insel ist aber auch durch einen Stollen unter dem Meeresboden erreichbar. Den abwärts führenden Treppengang dorthin verschließt eine Kellertür, die hinter gestapelten Kisten verborgen ist.
Es wirkt wie ein bedeutsamer Zufall, dass ich danach das Buch von Gavin Francis geschenkt bekam. Es war aber bedachtsam gewählt. Die Tochter hatte es im Gepäck. Sie kam von Berlin herüber und unterbrach die Selbstisolation ihrer Eltern. Das ungarische Wort dafür, elszigetelés, bewahrt in seinem Stamm noch die Herkunft von sziget, die Insel. Ausgesetzt wie Alexander Selkirk, interniert wie Napoleon auf Elba sind wir freilich nicht. Aber wir wägen Risiko und Ertrag ab und verzichten deshalb auf manche aushäusige Aktivität.
Das Manuskript, so der Autor im Vorwort, war seit fünf Monaten fertig, als die COVID19-Pandemie ausbrach. Für ihn ist die Leidenschaft, alte Inselkarten (oder die Kopien davon) zusammenzutragen, Ausdruck seiner individuellen Biographie. Phasen von Vernetzung, Kooperation und Unrast in den Großstädten wechseln ab mit dem Rückzug auf eine Insel und der Reduktion der sozialen Kontakte. In einer oft abweisenden natürlichen Umgebung kommt er zur Ruhe.
Die Kunst besteht darin, die Balance zu halten. Selbstfindung gelingt weder hier noch dort allein, sondern in der Bewegung. Kein Sprung von Insel zu Insel, sondern der Lebensdrift anheimgegeben. So treibt der Gedankengang von Zitat zu Zitat, von Reminiszenz zu Reminiszenz, und oft kehrt er zu einer Impression oder Erkenntnis zurück, diese noch tiefer auslotend. Die Textstruktur gleicht deshalb selbst Inselgruppen oder Archipelen, ja, fast scheinen die Absätze dem Narrativ von schwimmenden Inseln zu entsprechen, die einmal kartographisch erfasst, von späteren Seefahrern nicht mehr gefunden werden. Ein anderer Ausdruck für Intertextualität.
Statt an Plinius‘ magischen schwimmenden Inseln war Annie Dillard eher an echten schwimmenden Inseln interessiert, an dahingleitenden Mangroven-Verbünden, die sie in Florida und den Gewässern rings um die Galapagosinseln beobachtet hatte. „Sie treibt taumelnd und haltlos vor dem Wind,“ schrieb sie über eine Mangroveninsel. „Wahrscheinlich wird sie über den fremden Ozean driften, sich nähren von Tod und Wachstum, auf ihrem Weg provisorischen Boden einfangen, mit Krabben zwischen den Zehen und Seeschwalben im Haar.“
Annie Dillard, Teaching a Stone to Talk, Edinburgh: Canongate 2016. Zitiert nach Gavin Francis, Inseln, 238.
Das gedruckte Buch enthält viele Zitate und Reproduktionen von historischen Karten. Die topographischen Angaben lassen sich manchmal leider auch mit der Lupe nicht lesen; vielleicht sind sie auf dem Bildschirm, wenn sie im E-Book angezoomt werden, besser zu entziffern.
Gavin Francis, Inseln : Die Kartierung einer Sehnsucht. Köln: Dumont 2021 <Island Dreams. Mapping an Obsession. Edinburg: Cannongate 2020. Aus dem Englischen von Sofia Blind>.
Am 3. Oktober 2019 lud die Deutsche Botschaft in Budapest zum letzten Mal vor Corona zur Feier der deutschen Einheit ein. Dieses Mal im Várkért Bazár. Während der letzten drei Jahrzehnte war der Tag immer mit einer nahezu rituellen Danksagung an das Gastland verbunden gewesen, das durch hochrangige Politiker vertreten war. Den Tenor hatte Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinem Besuch im Dezember 1989 vorgegeben. Vor Studenten der Eötvös Lóránt Universität (ELTE) in Budapest hatte er den ewigen Dank des deutschen Volkes beschworen: „Ungarn hat den ersten Stein aus der Mauer geschlagen.“ Für den aufmerksamen Beobachter war nun (2019, als ungarische Politiker durch Abwesenheit glänzten) die Absicht spürbar, die damaligen Ereignisse aus der aktuellen Politik herauszuhalten und sie mit einem Augenzwinkern zu historisieren. Eine Ausstellung mit Objekten aus DDR-Produktion modellierten ein Wohnzimmer. Mit den Gegenständen, die in den Wohnungen zurückgelassen wurden.
Oder einen Camping-Platz. Für Zeitzeugen mögen Erinnerungen an die Zeltlager in Zugliget oder am Balaton aufgestiegen sein, in denen die Ausreisewilligen aus der DDR eine große Hilfsbereitschaft der ungarischen Menschen erfuhren. Und dann talkte Kai Pflaume mit dem Botschafter. Eine Schuhplattler-Gruppe rhythmisierte ihre Tänze mit dem Öffnen und Schließen von Werkzeugkästen und Biergartenstühlen. Die Gäste konnten sich am Steuer eines Trabants fotografieren lassen und die Polaroids mit nach Hause nehmen.
2020 am 3. Oktober fand dann coronabedingt keine offizielle Feier mehr statt. Eine Wanderung durch die Budaer Berge führte meine Frau und mich nach Zugliget zur Kirchengemeinde von Pfarrer Kozma, wo die Malteser die Betreuung der DDR-Bürger, die ausreisen wollten, übernommen hatten. Im Garten zwei Betonteile der Berliner Mauer und ein mit Schlagzeilen bedruckter Trabi – Monumente der jüngsten Geschichte.
Stand einfach an der Straße in Zugliget herum, ein restaurierter ZiL 110, die sowjetische Staatskarosse. Nur 2200 Stück waren davon produziert worden. Auf dem polierten Lack die Schalen von Rosskastanien wie kleine Igel.
Leo Läufer macht Mut in seiner lesenswerten Mitteilung aus der Kronengruft. Leo spiegelt seine Lektüre des Romans „Titan“ von Jean Paul im gegenwärtigen Pandemie-Geschehen. Der Held erkennt nach langen Irrwegen, dass die Welt nicht verändert werden kann. Aber statt uns einfach mit ihr abzufinden, sollen wir uns um ein wenig Menschlichkeit und Solidarität bemühen. In diesem Zusammenhang gewinnt ein Satz aus dem Roman an Bedeutung, die klären zu helfen Leo seine Leser aufruft. Das gibt mir, Xing, den Mut, meine Lesart hier zu unterbreiten.
Freiheit ist die frohe Ewigkeit, Unglück für den Sklaven ist Feuersbrunst im Kerker – – (Jean Paul)
Vertrackte Syntax. Die beiden Hauptsätze scheinen eine Antithese zu bilden. Aber die Parallelitäten sind verschoben. Der Effekt: Die lesenden Augen springen zwischen den beiden Sätzen hin und her. Das Fruchtbare der Sentenz könnte in dieser Bewegung liegen – wenn diese mehr als das bloße Abschreiten der Zellenmaße im „Kerker“ der Antithese sein kann. Die Dialektik kommt in Gang, weil die Antithese nicht die pure Negation der These ist.
Also: dem Subjekt „Freiheit“ im ersten würde ein Subjekt „Unfreiheit“ im zweiten Satz entsprechen. Jean Paul setzt stattdessen der Abstraktion zwei Konkreta entgegen. Der „Kerker“ ist aber in eine präpositionale Ergänzung zu „Feuersbrunst“ gerutscht, und der „Sklave“ steht als Präpositionalobjekt zu „Unglück“.
Erste Deutung: Der Sklave könnte es sich auf einem Strohhaufen in seinem „Kerker“ einigermaßen bequem einrichten, sein Missgeschick aber will es, dass Gitter und Ketten ihn an der Flucht vor der „Feuersbrunst“ hindern. Aber ein Sklave im Kerker? Die Konkreta widersprechen sich. Der Sklave soll arbeiten, im Kerker ist er unnütz.
Der schiefe Chiasmus entsteht dadurch, dass „Unglück“ das Subjekt im zweiten Satz bildet. Dem „Unglück“ steht nicht „Glück“ oder konkret „Frohsein“ als Subjekt im ersten Satz entgegen, vielmehr entspricht ihm als Gegenspieler das Attribut „froh“ (zu „Ewigkeit“). Der Ausdruck „frohe Ewigkeit“ definiert „Freiheit“. „Ewigkeit“ hat als Gegenspieler die „Feuersbrunst“, die schnell verlischt (vgl. die Metapher „Strohfeuer“). Manche Gefangene zünden in ihrer Zelle selbst ein Feuer an, nur um von den Wächtern gerettet und in eine andere Zelle gesperrt zu werden. Diese Rettung bringt keine Freiheit.
Zweite Deutung: Statt ein Feuer zu legen gilt es, ein ewiges Licht der Freude anzuzünden. Dieses leuchtet demjenigen, der nicht Sklave, sondern frei in seinem Kerker ist. An dem Kerker, der Welt, ändert das frohe Schaffen nichts. Aber es leuchtet als Utopie der Freiheit hinein.