Wieder gelesen : Albert Camus „Die Pest“

„Eine bewährte Art, eine Stadt kennenzulernen, besteht darin, herauszufinden, wie ihre Bewohner arbeiten, wie sie lieben und wie sie sterben. In unserem Städtchen vermengt sich dies alles und geschieht mit der gleichen Maßlosigkeit , doch ohne innere Anteilnahme.“

Albert Camus, Die Pest. Einzige vom Verfasser autorisierte Übertragung von Guido C. Meister. Reinbek bei Hamburg 1950: Rowohlt (rororo 15), S. 5

Dem Roman ist ein Zitat von Daniel Defoe vorangestellt. Darin wird das Verhältnis von Fiktion und Realität beleuchtet. Camus stellt damit die philosophische Frage, ob überhaupt „etwas“ die grundsätzlich absurde Existenz des Menschen transzendieren kann. Wie Robinson sich seine Insel immer komfortabler einrichtet und von nichts anderem träumt, als sie zu verlassen, so sehnen die Einwohner von Oran, der wegen der Pest abgeriegelten Hafenstadt am Mittelmeer, das Ende der Quarantäne herbei, um in ihre eingefahrenen Gewohnheiten des Arbeitens, Liebens und Sterbens zurückzukehren. Das ist jetzt erst einmal eine Deutungshypothese. Vielleicht werde ich durch die erneute Lektüre des Romans ja eines Anderen belehrt. Oder die Zeit nach Corona bewahrheitet die Prophezeiungen, dass von jetzt an alles anders wird. Das Defoe-Zitat lautet:

Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt.

Zeit des Weinens

Zeit des Weinens

Heute, am 27. Januar 2015, gedenken wir der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Von den 795.000 ungarischen Juden wurden von Mai bis Juli 1944 rund 438.000 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Am 29. und 30. April fuhren erstmals zwei Züge mit insgesamt rund 3.800 Menschen nach Auschwitz, von denen der erste mit 1.800 Menschen das Lager noch im April erreichte. Am 15. Mai begannen die allgemeinen Deportationen mit mindestens drei Güterzügen täglich und ungefähr 4.000 Menschen in jedem Zug. Hier soll – statt das staatliche ungarische Gedenken zu kommentieren – eine bemerkenswerte lokale Initiative dargestellt werden, in die auch die kommende Generation eingebunden ist.

Am 16. Dezember 2014, dem ersten Tag von Chanukka der jüdischen Zeitrechnung 5775, konnte mit der Einweihung einer von zivilen Spendern gestifteten Memorial-Stele für die lokalen Holocaust-Opfer im jüdischen Friedhof von Werischwar/Pilisvörösvár bei Budapest eine seit Jahren offene Erinnerungs-Schuld beglichen werden. In der vom Rabbi von Altofen (Óbuda), Dr. Tamás Verő, zelebrierten Gedenkfeier wurde überhaupt erstmals öffentlich der 51 namentlich bekannten Werischwarer Opfer der Nazi-Vernichtung gedacht.

Die Erinnerung an die Opfer der Shoa kommt spät – aber nie zu spät. Am ersten Tag von Chanukka nach über 70 Jahren ein gut sichtbares Licht der Erinnerungskultur zu entzünden – das war die Idee des erstmals öffentlich abgehaltenen Holocaust-Gedenktages von Werischwar/Pilisvörösvár. Dieser stand unter dem biblischen Leitwort: ….ע ת   ל ב כ ו ת „Ideje van a sírásnak…“ – “Es ist Zeit für das Weinen” (Pred. 3. 4.).

Die feierliche Zeremonie kam ebenso wie die Errichtung des in ockerfarbenem Quarzsandstein gehaltenen, drei Meter hohen Denkmals auf zivile Initiative des nach Friedrich Schiller benannten lokalen deutschsprachigen Nationalitätengymnasiums in Werischwar/Pilisvörösvár zustande. Auf dem abgebrochene Ast eines großen Baumes stehen die Namen der Opfer jeweils auf einem Blatt – neben den 51 bereits erforschten lokalen Holocaust-Opfern sind auf dem Denkmal aber noch weit mehr namenlose Stellen vorhanden. Denn die Forschung in einem der größten und schönsten, denkmalgeschützten alten jüdischen Friedhöfe in Ungarn hat praktisch erst begonnen.

Memorial Werischwar

In diesem Zusammenhang ist auch die aktuelle Ausstellung über die Geschichte des Werischwarer Judentums in der Aula des Friedrich-Schiller-Gymnasiums zu sehen. Die Pflege des jüdischen Friedhofs von Werischwar/Pilisvörösvár ist Bestandteil des Lehrplans der Schule. Der Ausbau und die Vernetzung dieser Initiative mit anderen ähnlichen, grenz- und konfessionsüberschreitenden Projekten in Ungarn bzw. in Zentral-/Osteuropasoll im Sommer fortgesetzt und ausgebaut werden.

Warn-Blinzel-Anlage

Alltägliche Stau-Erfahrung auf den Brücken und Ringstraßen von Budapest: Man bedankt sich mit der Warnblinkanlage, wenn ein anderer Autofahrer eine Lücke lässt und man sich so in die Autoschlange einreihen kann. Das geht auch anders: Ich überhole rechts auf der Busspur,  drängle mich vor der nächsten Baustelle oder Ampel nach links hinein und – tippe den Schalter für die Warnblinkanlage zweimal kurz an. „Ich weiß, das war jetzt nicht ganz o.k. Aber du an meiner Stelle hättest das jetzt auch so machen können, oder?“ Der Regelverstoß gilt damit als vergeben und vergessen.

Das Blinzeln als Heischen um Einverständnis habe ich zum ersten Mal vor Jahren in einer ungarischen Wohnküche erlebt. Der Zweitklässler saß am Küchentisch und kaute über seinen Rechenaufgaben am Bleistift. Gelangweilt schob er ein Automodell über die Seiten des Mathebuchs. Die Hausfrau bereitete am Herd das Abendessen vor. Sie hatte ihren Jungen schon mehrmals ermahnt, sich zu konzentrieren. Schließlich legte sie einen großen Kochlöffel aus Holz mit ausladender Geste neben das Hausaufgabenheft. Der Junge zwinkerte sie von schräg unten an, wortlos, als wollte er sagen: „Das meinst du doch nicht ernst, oder?“ Die Mutter musste lachen, der Sohn stimmte ein.

Synästhesien und Sprachspiele

Vor fünf Wochen war ich der Georg-Grosz-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste: „Korrekt und anarchisch“ soll er gewesen sein, ganz nach meinem Xing-Geschmack. Viel Kleinformatiges.  Die frühen DADA-Montagen und spätere wunderbar collagierte Postkartengrüße an einen Freund lohnten das genaue Hinsehen. Entdeckungen waren zu machen, z. B. Grosz’ Publikationsorte nach dem Austritt aus der KPD, die seinem sozialen Engagement zur Zeit der Weimarer Republik dennoch weiterhin eine Bühne boten, die Zeitschrift  „Die Pleite“ von Wieland Herzfelde zum Beispiel. Bei der  großen Ausstellung von Katharina Sieverding („Close up“ im Budapester Ludwig-Museum, April 2006) hatte ich ein Foto gemacht, auf dem ihre großformatige Graphik das Logo dieses Periodikums zeigte, ohne dass ich damals von dieser Quelle wusste oder gehört hätte. Unwillkürlich ordnete ich die Graphik der Berliner Republik zu, wie sie sich nach der Wiedervereinigung entwickelt haben mag.Katharina Sieverding - Ausstellung in Budapest April 2006 Späte Entdeckung: Erst jetzt fällt mir auf, wieviele bekannte ungarische Künstler auf dem Foto zu sehen sind. Und mit welch hintergründigem Lächeln sie sich abwenden. Von was? Mimik und halbe Körperdrehung beschwören mir Franz Kafkas Polizisten herauf, der – nach dem Weg zum Bahnhof gefragt – dem Atemlosen beiseite gespro-
chen klar macht: „Gib’s auf!“

Warum ich erst jetzt über meinen Nachmittag in der Georg-Grosz-Ausstellung schreibe?  Beiläufig hatte ich mir mir aus einem Film-Interview mit Grosz eine Erzählung über seine Schulzeit notiert: „Der Rohrstock in der Oberrealschule wurde nach dem benannt, der ihn fühlte.“ Der Lehrer befahl: „Hol den Grosz aus dem Schrank!“, wenn Grosz Prügel beziehen sollte. Mich erschütterte das zynische Sprachspiel, und unwillkürlich erinnerte ich mich an einen  Internatspräfekten aus meiner Schulzeit in den 60er Jahren: Er verfügte über drei Stöcke mit den Namen „Heilsam“, „Balsam“ und „Grausam“. Der zu bestrafende Schüler hatte die Wahl zwischen „Heilsam“ und  „Balsam“.  Der Pädagoge fügte Schläge mit dem „Grausamen“ nach seinem Belieben hinzu. Ich hörte davon erzählen und entschied mich gegen den Eintritt in das katholische Internat.

Inzwischen werden in Deutschland immer mehr  Fälle des sexuellen Missbrauchs von Schülern bekannt. Die Vorgänge in der reformpädagogischen Odenwaldschule öffnen aber die Augen dafür, dass die Strafrituale einer Schwarzen Pädagogik, wie immer auch sadistische Züge sich hineinmischen mögen, genau unterschieden werden müssen vom sexuellen Missbrauch durch den geliebten, charismatischen Lehrer. Nur der Missbrauch führt zum abgrundtiefen Riss zwischen mir und den anderen, zum Herausfallen des Ichs aus der Welt.

Internationaler Holocaust-Gedenktag in Budapest

Angesichts der Tatsache, dass bald keine Zeitzeugen mehr leben, richtet sich der Blick nach vorn: Im Budapester Holocaust-Gedenkzentrum wurde heute aus Anlass des Gedenktages das Projekt „Egy/másért“ („For Each Other“ – „Ein jeder für den Anderen“) vorgestellt. Die Botschafter von sieben Ländern (Deutschland, Großbritannien, Kanada, Polen, Schweden, Tschechien, USA) stellten hochrangige kulturelle Projekte vor, die sich – zum Teil länderübergreifend – schon seit Jahren erfolgreich für Toleranz und Völkerverständigung, für den Schutz von Minderheiten und der Menschenrechte, für die Integration von Migranten, gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Holocaust-Leugnung einsetzen. Mit der Initiative möchten die Organisatoren, unterstützt vom Ungarischen Ministerium für Kultur und Bildung, insbesondere junge Menschen für diese Themen interessieren und zum sozialen Engagement in eigenen Projekten anregen.

Zusendung aus Ulanbataar

Die Kollegin aus Ulanbataar (Mongolei) sendet zu Weihnachten ein Gedicht von Galsan Tschinag:

Wie ich Deutsch lernte

Von einem Ohr, das achtzehn Winter verhärtet haben,
wollen sich die wildfremden Bezeichnungen nicht einfangen lassen.
Sie sind scheuer als die Wildpferde in den Mongolensteppen.
Vor allem die Substantive ähneln verteufelt den windgeilen Stuten,
die an der Spitze der Herde hin und hertänzeln.
Jede hat so etwas wie ein Fohlen bei sich: den Artikel.
Und ein Fohlen, so muss man wissen ist schlüpfrig wie ein Fisch:
Das Lasso bleibt zehnmal schwieriger an ihm hängen
als an einer eckigen und kantigen Stute.
Nicht umsonst heißt es wohl:
Fängst du ein Fohlen auch erst mit dem dritten Wurf,
so halte dich schon für einen Lassokönner.
Ich bin nie ein Lassokönner gewesen, und es sah nicht so aus,
als ob die fremde Wortherde einen aus mir machen würde.