Alpträume

Rückblick: Ich rufe aus Belgrad zu Hause in Budapest an, zwei drei Tage nach der Gay Pride Parade:  „Ist Post gekommen?“ – „Nichts Besonderes, nur der SPIEGEL.“ – „Was steht drin?“ – „Auf dem Titelbild ist eine Spinne, die wirft einen großen Spinnenschatten, es geht um die Macht der Angst. Angst ist gar nicht so schlecht, alle Erfolgreichen waren ängstlich, Bill Gates zum Beispiel.“ –  „Und was sonst noch?“ – „Ein Schimpfartikel über Budapest.“  Budapest – Hauptstadt der Alpträume – eine neue Marke in der Hitliste der Metropolen.

Caprichos Nr 43, Der Traum, der Vernunft erzeugt

Francisco de Goya:   El sueño de la razón produce monstruos (Caprichos 43) 1799

Wahlen in Ungarn

Fotografiert in der Tompa utcaIn der Franzensstadt erschienen in den vergangenen Wochen Schablonen-Graffiti mit dem Porträt Attila Józsefs, des nach verbreitetem Urteil (neben Endre Ady) bedeutendsten ungarischen Lyrikers im 20. Jahrhundert. Auf den  Plakatwänden für die  politischen Parteien, die sich am heutigen Sonntag um die Stimmen von mehr als 8 Millionen Wahlberechtigten bewerben,  klebte das  Porträt mit dem Slogan, für Europäer sei Attila József die einzig wählbare Alternative am 11. April. Heute vor 105 Jahren wurde der Dichter als Sohn einer Wäscherin geboren – in der Gát utca [Deichgasse], ebenfalls in der Franzensstadt.  Im Innenhof findet heute eine Lesung mit allen seinen Gedichten statt – aus einer Wahlkabine heraus.  Meine Wahl ist schon lange auf Attila József gefallen, ihn, der wegen eines Gedichts vom Lehrerstudium an der Universität Szeged ausgeschlossen wurde und den man 1936 nicht zu Thomas Mann vorließ, als dieser Budapest besuchte.

Der Dichter im Abseits

Bronzen, überlebensgroß
Eine umgeschmolzene Glocke:
Aus der Form gestürzt
Ans Ufer erzwungenen Müßiggangs.
Die Hände zwischen den Knien
Mögen auch den Hut nicht mehr dreh′n.

Geschweige denn… Und Schweigen.
Haltloser Blick auf den
Strom, drin treibt die
Sprache in Schollen, türmt
Sich zu Eisgebirgen
Auf:  So leer das alles.

Augenstümpfe, Stammelohren, wund
Die von Apollo gehäutete Zunge…
Aber golden, golden
Zwischen Braue und Wange
Golden im Licht der Bogenlampen
Webt eine Spinne ihr schütteres Netz.

(1. Dezember 1995)

Synästhesien und Sprachspiele

Vor fünf Wochen war ich der Georg-Grosz-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste: „Korrekt und anarchisch“ soll er gewesen sein, ganz nach meinem Xing-Geschmack. Viel Kleinformatiges.  Die frühen DADA-Montagen und spätere wunderbar collagierte Postkartengrüße an einen Freund lohnten das genaue Hinsehen. Entdeckungen waren zu machen, z. B. Grosz’ Publikationsorte nach dem Austritt aus der KPD, die seinem sozialen Engagement zur Zeit der Weimarer Republik dennoch weiterhin eine Bühne boten, die Zeitschrift  „Die Pleite“ von Wieland Herzfelde zum Beispiel. Bei der  großen Ausstellung von Katharina Sieverding („Close up“ im Budapester Ludwig-Museum, April 2006) hatte ich ein Foto gemacht, auf dem ihre großformatige Graphik das Logo dieses Periodikums zeigte, ohne dass ich damals von dieser Quelle wusste oder gehört hätte. Unwillkürlich ordnete ich die Graphik der Berliner Republik zu, wie sie sich nach der Wiedervereinigung entwickelt haben mag.Katharina Sieverding - Ausstellung in Budapest April 2006 Späte Entdeckung: Erst jetzt fällt mir auf, wieviele bekannte ungarische Künstler auf dem Foto zu sehen sind. Und mit welch hintergründigem Lächeln sie sich abwenden. Von was? Mimik und halbe Körperdrehung beschwören mir Franz Kafkas Polizisten herauf, der – nach dem Weg zum Bahnhof gefragt – dem Atemlosen beiseite gespro-
chen klar macht: „Gib’s auf!“

Warum ich erst jetzt über meinen Nachmittag in der Georg-Grosz-Ausstellung schreibe?  Beiläufig hatte ich mir mir aus einem Film-Interview mit Grosz eine Erzählung über seine Schulzeit notiert: „Der Rohrstock in der Oberrealschule wurde nach dem benannt, der ihn fühlte.“ Der Lehrer befahl: „Hol den Grosz aus dem Schrank!“, wenn Grosz Prügel beziehen sollte. Mich erschütterte das zynische Sprachspiel, und unwillkürlich erinnerte ich mich an einen  Internatspräfekten aus meiner Schulzeit in den 60er Jahren: Er verfügte über drei Stöcke mit den Namen „Heilsam“, „Balsam“ und „Grausam“. Der zu bestrafende Schüler hatte die Wahl zwischen „Heilsam“ und  „Balsam“.  Der Pädagoge fügte Schläge mit dem „Grausamen“ nach seinem Belieben hinzu. Ich hörte davon erzählen und entschied mich gegen den Eintritt in das katholische Internat.

Inzwischen werden in Deutschland immer mehr  Fälle des sexuellen Missbrauchs von Schülern bekannt. Die Vorgänge in der reformpädagogischen Odenwaldschule öffnen aber die Augen dafür, dass die Strafrituale einer Schwarzen Pädagogik, wie immer auch sadistische Züge sich hineinmischen mögen, genau unterschieden werden müssen vom sexuellen Missbrauch durch den geliebten, charismatischen Lehrer. Nur der Missbrauch führt zum abgrundtiefen Riss zwischen mir und den anderen, zum Herausfallen des Ichs aus der Welt.

General Winter

 

Zurück aus Berlin. Es war nicht nur kalt, die Stadt ist auch klamm, kein Geld mehr für Schneeräumung bzw. Streumittel vorhanden. Das Granulat, zum Abstumpfen auf den festgetretenen Schnees gestreut, war bei Tauwetter in den Matsch gesunken und dann bei erneuten Minusgraden wirkungslos in die spiegelglatte und wellige Eisfläche eingefroren. Die Krankenhäuser sollen voll sein mit Menschen, die sich die Knochen gebrochen haben. Die privaten Firmen, denen die öffentliche Aufgabe der Tauwetterproduktion eigentlich überlassen worden war, hatten in den vergangenen milden Wintern Personal entlassen, statt die Leute die – wie sich jetzt herausstellt –  wirkungsarmen Kehrmaschinen kaputtpflegen zu lassen. Im Fernsehen war abends Claus Peymann zu sehen, der vor seinem Theater (immerhin Brechts „Berliner Ensemble“) PROTESTIERTE und einen argumentativen Schlittertanz aufführte: Bei aller Polemik gegen den Weltstadtanspruch lag ihm eigentlich auf der Zunge, einen Arbeitsdienst für Hartz-IV-Empfänger zu fordern, damit seinen Theaterbesuchern zur aufgeräumten Stimmung auch geräumte Wege verfügbar sind. Damit wäre er allerdings gefährlich in die Nähe des Vizekanzlers und FDP-Vorsitzenden gerutscht, der im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sätzen das Leistungsprinzip in Gefahr sieht:  „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“ In der Tat sind die Passanten in Budapest mit seinem ein bisschen weniger gut funktionierenden Kapitalismus besser dran; hier hat man den Arbeitslosen Hacke, Schaufel und Sicherheitsweste ausgehändigt und so für umgerechnet ein, zwei Euro sowie eine warme Mahlzeit pro Mann oder Frau am Tag zunächst die Straßenbahnweichen und -haltestellen freigemacht, dann die Straßenkreuzungen und Zebrastreifen und schließlich die Bushaltestellen und Gehwege. Da muss man nicht ständig vor die Füße schauen und ein empfindliches Gleichgewicht halten, sondern kann sich auch mal gehen lassen.

Infrarot

Der deutsche Wetterdienst meldet: Eine solche Schneelage wie zur Zeit gab es zuletzt im Winter 1978 / 1979. Ich erinnere mich. In Norddeutschland bahnten Schützenpanzer der Bundeswehr Molkereifahrzeugen durch 6 Meter hohe Schneeverwehungen den Weg zu den Höfen, wo die Bauern die gemolkene Milch auf Plastikplanen zu gefrorenen Seen aufgestaut hatten.

Videospace Budapest: Petko Dourmana

Die Galerie Videospace in Budapest zeigt vom 5. Februar bis zum 27. März 2010 eine Installation von Petko Dourmana (Sofia): „Post Global Warming Survival Kit.“ Nur mit Nachtsichtgeräten können  Besucher eine  zwischen Auflösung und Erstarrung schwankende Eismeerküste betrachten. So wird ein nuklearer Winter simuliert: Die letzte Rettung vor dem Abschmelzen der Polkappen durch die globale Erwärmung war eine Folge von Atomschlägen, deren Fallout die Sonne verdunkelt hat.

Eröffnung: Freitag, 5. Februar 2010, 19:00 Uhr

Videospace Galéria, Budapest IX. Ráday utca 56