Energiestoß für den Engel der Geschichte ( Wieder gelesen: Krieg und Frieden # 4 )

Kurz vor dem Einschlafen wieder Tolstoi. Der Beginn des Neunten Teils von „Krieg und Frieden“. Am 12. Juni 1812 wurde die rote Linie überschritten, die zweite Grande Armée unter Napoleon drang nach Russland ein. Leo Tolstoi hebt die Unmöglichkeit hervor, die Gründe für das Handeln der Akteure zu erkennen, egal ob auf der Makro- oder der Mikro-Ebene. Weil es Millionen und Abermillionen von Gründen gebe. Das epische Panorama – in der deutschen Übersetzung 1.598 Seiten – bringt der Autor hier auf die Kurzformel vom Fatalismus in der Geschichte.

Für uns Nachfahren, die wir keine Historiker sind, die wir uns durch den Forschertrieb nicht hinreißen lassen und deshalb die Ereignisse mit ungetrübten, gesunden Sinnen überschauen, stellen sich die Gründe für diesen Krieg in ungezählten Mengen dar. […] Solche Gründe, wie die Weigerung Napoleons, seine Truppen hinter die Weichsel zurückzuziehen oder das Herzogtum Oldenburg wieder herauszugeben, erscheinen uns wie der Wunsch oder die Weigerung des ersten besten französischen Korporals, zum zweiten Mal wieder in den Militärdienst einzutreten, denn wenn er nicht den Wunsch gehabt hätte, wieder einzutreten, und ein zweiter, ein dritter, ein tausendster Korporal oder Soldat seinem Beispiel gefolgt wäre, so hätte Napoleons Armee um soviel weniger Mannschaften gehabt, und der Krieg wäre unmöglich gewesen.

Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Neunter Teil, Kapitel 1. München (Winkler) 1956, Seiten 825-826.

Dann vor dem Aufwachen ein Traum. Dunkel, vom Hafen her erhellt. Eine ältere (alte?) Frau steigt mit kräftigen Schritten die Treppe zur Stadt hinan. Sie schleppt zwei große, prall gefüllte Tragetaschen, obwohl es dunkel ist, meine ich zu erkennen, dass diese aus kariertem Kunststoff bestehen. Die Schritte der Frau auf der Treppe hallen durch das Dunkel, sie trägt Schuhe mit harten (breiten, hohen) Absätzen. Oder sind es Stiefel? Früher hätte ich gesagt: „Mütterchen Russland“. Sie geht die Treppe, she walks her line. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, wird ein Kinderwagen die Stufen herunter ticken. Die steinernen Löwen werden sich erheben und ein Gebrüll anstimmen. Von oben wird die zaristische Soldateska im Kordon, schießend und die Gewehre immer wieder ladend, in die Menge schießend, die Treppe säubern.

Der Tiger springt ins Vergangene, der Film läuft rückwärts. Den Engel der Geschichte weht es von uns weg. Er entfernt sich, bleibt uns aber zugewandt. „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ (Walter Benjamin)

Vor 12 Stunden

Budapest, XII. Bezirk. Ukrainische Botschaft. Ganz rechts der Konsulateingang mit der Schlange der Wartenden.

Gestern Mittag vor der Ukrainischen Botschaft in Budapest. Hier haben wir am Sonntag vor einer Woche Blumen niedergelegt und eine Kerze angezündet. Da waren noch keine Geflüchteten vor der Botschaft. Ich versuche es mit Englisch und Deutsch. Gespräch mit einer jungen Familie. Er Engländer, hat Frau und Kind herausgeholt. Sie wollen die Papiere in Ordnung bringen und dann mit dem Flieger nach London. Wissen sie von jemandem, der oder die weiter nach Deutschland will? Ja, da war jemand im Zug, aber… Die Aufmerksamkeit ist nicht auf dieses Gespräch gerichtet. Die Frau wartet gespannt darauf, dass die nächste Gruppe von zehn Menschen hereingerufen wird. Der Mann kümmert sich um das Kind. Sie sind bei Záhony nach Ungarn über die Grenze gegangen, weil die Übergange nach Polen hoffnungslos verstopft schienen. Der junge Mann ist voller Lobes für die Hilfsbereitschaft der Ungarn. Sie haben im Zelt übernachtet und wurden gut versorgt. Fahrten mit der Ungarischen Staatsbahn sind kostenlos. Will sonst niemand nach Deutschland? Ich treffe sonst keinen mit Deutsch- oder Englischkenntnissen, geschweige denn Ungarischsprechende. Klar, die wollen nicht weiter. Eine junge Frau kann Französisch, aber das kann ich nicht. Alle haben einen Plan und sind gestresst. Ich bin da eher lästig.

Aus der freiwilligen Quarantäne mit einem Satz von Jean Paul

Pestfarben, Pestfeuer im Garten von Fehértó

Leo Läufer macht Mut in seiner lesenswerten Mitteilung aus der Kronengruft. Leo spiegelt seine Lektüre des Romans „Titan“ von Jean Paul im gegenwärtigen Pandemie-Geschehen. Der Held erkennt nach langen Irrwegen, dass die Welt nicht verändert werden kann. Aber statt uns einfach mit ihr abzufinden, sollen wir uns um ein wenig Menschlichkeit und Solidarität bemühen. In diesem Zusammenhang gewinnt ein Satz aus dem Roman an Bedeutung, die klären zu helfen Leo seine Leser aufruft. Das gibt mir, Xing, den Mut, meine Lesart hier zu unterbreiten.

Freiheit ist die frohe Ewigkeit, Unglück für den Sklaven ist Feuersbrunst im Kerker – – (Jean Paul)

Vertrackte Syntax. Die beiden Hauptsätze scheinen eine Antithese zu bilden. Aber die Parallelitäten sind verschoben. Der Effekt: Die lesenden Augen springen zwischen den beiden Sätzen hin und her. Das Fruchtbare der Sentenz könnte in dieser Bewegung liegen – wenn diese mehr als das bloße Abschreiten der Zellenmaße im „Kerker“ der Antithese sein kann. Die Dialektik kommt in Gang, weil die Antithese nicht die pure Negation der These ist.

Also: dem Subjekt „Freiheit“ im ersten würde ein Subjekt „Unfreiheit“ im zweiten Satz entsprechen. Jean Paul setzt stattdessen der Abstraktion zwei Konkreta entgegen. Der „Kerker“ ist aber in eine präpositionale Ergänzung zu „Feuersbrunst“ gerutscht, und der „Sklave“ steht als Präpositionalobjekt zu „Unglück“.

Erste Deutung: Der Sklave könnte es sich auf einem Strohhaufen in seinem „Kerker“ einigermaßen bequem einrichten, sein Missgeschick aber will es, dass Gitter und Ketten ihn an der Flucht vor der „Feuersbrunst“ hindern. Aber ein Sklave im Kerker? Die Konkreta widersprechen sich. Der Sklave soll arbeiten, im Kerker ist er unnütz.

Der schiefe Chiasmus entsteht dadurch, dass „Unglück“ das Subjekt im zweiten Satz bildet. Dem „Unglück“ steht nicht „Glück“ oder konkret „Frohsein“ als Subjekt im ersten Satz entgegen, vielmehr entspricht ihm als Gegenspieler das Attribut „froh“ (zu „Ewigkeit“). Der Ausdruck „frohe Ewigkeit“ definiert „Freiheit“. „Ewigkeit“ hat als Ge­genspieler die „Feuersbrunst“, die schnell verlischt (vgl. die Metapher „Stroh­feuer“). Manche Gefangene zünden in ihrer Zelle selbst ein Feuer an, nur um von den Wächtern gerettet und in eine andere Zelle gesperrt zu werden. Diese Rettung bringt keine Freiheit.

Zweite Deutung: Statt ein Feuer zu legen gilt es, ein ewiges Licht der Freude anzuzünden. Dieses leuchtet demjenigen, der nicht Sklave, sondern frei in seinem Kerker ist. An dem Kerker, der Welt, ändert das frohe Schaffen nichts. Aber es leuchtet als Utopie der Freiheit hinein.

Eröffnung der Cogwheel Railway Gallery: ########### Eins greift ins andere #9)

Link zur Seite Cogwheel Railway Gallery

„Fogaskerekű!“ Das klingt wie Hahnenschrei,
wie Weckruf, das Ungarnwort bedeutet „Zahnradbahn”.
Muse, lass rumpeln die Bahn auf fest verschraubten Geleisen,
drei an der Zahl auf die Schwellen, den Schotterdamm geheftet,
die Metrik wirbelsäulengleich, und Zahn an Zahn
das führende Band. Nichts für Herumtreiber, nichts für Odysseus.
Wanderer, knie nieder, leg dein Ohr auf die Schiene:
Gesang ertönt, wie von Sirenen, beim Nähern des Zugs.
Kein Feuerross mehr, ein mählich ruckelnder Triebwagen
biegt um die Kurve. Zahn um Zahn greift in die Lücken,
der Kranz in die Führung, kreischend schleift Eisen an Eisen,
geschwollene Kämme, Hahnenkämpfe um Trojas Mauern.
Hoch trabend im Innern der Wagen die Mountain-Bike-Fahrer,
behelmt und polsterbewehrt, verschrauben sich höher hinauf.
Die Schuhe docken Pedalen an wie Viren den Zellen,
Klick! und abwärts geht’s, Frau Wahnschaff’ Corona,
die Staubmaske vor, der Niemand ist ein sterblicher Gott.

Alles auf einen Nenner

Wohl die meisten Jahresrückblicke, auch die persönlichen, auf das Jahr 2020 bringen alles in Verbindung mit der Pandemie. Die diesjährige Leseliste verzeichnet oft, genau wie beim Schreiber dieser Zeilen, im Frühjahr die Lektüre von Albert Camus‘ Roman „Die Pest“. Ich beende das Lesejahr mit dem 2018 bei Suhrkamp erschienenen Memento mori von Esther Kinsky, Hain : Geländeroman. Wenn man sagt, der Roman spiele in Italien >>> Weiterlesen

Abstraktion, Guilotine – Zu Albert Camus „Die Pest“ (8)

Zweites Gespräch zwischen dem Arzt Rieux und dem Journalisten Rambert. Er war von seiner Pariser Redaktion nach Oran geschickt worden, um für einen Bericht über die Lebensbedingungen der Araber zu recherchieren. Jetzt will er die gesperrte Stadt verlassen, weil er sich nicht zugehörig fühlt. Das lässt Rieux nicht gelten. Rambert will wider alle Berufsbarrieren, die den Arzt beschränken, ein Attest, eine Bescheinigung, dass er nicht an der Pest leidet, um die offizielle Genehmigung zur Ausreise zu erhalten. Das kann der Arzt nicht verantworten. Für den Grund, dass Rambert das Glück mit seiner Geliebten in Paris sucht, äußert er Verständnis. Dennoch bleibt er hart. „Ich kann Ihnen diese Bescheinigung nicht ausstellen, weil ich in Wahrheit tatsächlich gar nicht weiß, ob Sie die Krankheit haben oder nicht, und weil es mir in diesem Fall sogar unmöglich wäre zu bestätigen, dass Sie nicht angesteckt werden, während Sie von meinem Untersuchungszimmer zur Präfektur gehen.“ [S. 52] Die Weigerung trägt ihm den Vorwurf ein, nur abstrakt über Menschenschicksale zu entscheiden. Heute brachte Dr. Wiemer vom Robert-Koch-Institut den zweifelhaften Wert eines Corona-Immun-Ausweises zur Sprache, solange die Wissenschaft noch so wenig über die Infektionsverläufe weiß.