Zwischendurch Facebook, dann wieder „Die Pest“ (5)

Facebook-Posts und Kommentare von Frauen [XX1, XX2 usw.)] und Männern [XY1, XY2 usw.] zum Zeitgeschehen

XX2 postet auf Facebook den Artikel von Jana Hensel [XX1] auf ZEIT ONLINE vom 13. April 2020: „Gleichberechtigung: Die Krise der Männer“ [Schlagzeile]. „In der Corona-Pandemie zeigt sich, wer in Deutschland die Macht hat. Männer glauben, die Lösungen zu haben, Frauen arbeiten derweil in systemrelevanten Berufen.“ [Darunter ein Foto von Markus Söder. Im Haupttext schreitet die Autorin die Front der meist männlichen Virologen ab und bringt ein paar Differenzierungen an, Merkel natürlich, und wie heißt diese unglaublich hübsche Intensivmedizinerin aus der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf noch mal? Der Fokus soll hier aber auf den Kommentaren liegen:]

XX2 [die Poster*in]: „Jana Hensel mit wahren Worten. Mir war das auch schon aufgefallen- ich hätte es aber nicht so schön vertexten können. Nebenbemerkung: nicht nur ist der Diskurs eher wieder männlicher, die Letalität ist es auch.“

XX3 dazu: „Der Bericht erinnert mich an die frühen 70iger, als die Gleichberechtigungswelle in Deutschland so richtig losging. Alice Schwarzer wird sich nicht freuen, das [sic!] wir Frauen angeblich nicht viel erreicht haben. Selbst wenn die Statistik eine höhere Männerquote aufweist, in einer Krise stehen Frauen oft besser ‚ihren Mann‘ als manche männlichen Geschlechtsgenossen. Diese Erfahrung mache ich immer wieder im Leben.

XY1: „Soso.“ [Dieser String, offensichtlich etwas Persönliches, wird hier abgebrochen.]

XX4 [im Anschluss XX2]: „Vielleicht räumt ja Corona jetzt ein wenig auf unter den ganzen Männern 50plus in den Chefetagen… 😈“

XY2: „Steht [sic!] das mit der Letalität und die letzte Bemerkung hier wirklich?“

XY3 [Ich, XING, fühle mich durch die letzte Bemerkung zu einem Kommentar angeregt, den ich nach dem Posten auf Facebook hier etwas ausbaue:]

Die Hauptakteure in Albert Camus‘ „Die Pest“ sind Männer: der Arzt Rieux, der Jesuit Pater [!] Paneloux, der namenlose Präfekt, der Müßiggänger Tarrou, der Journalist Rambert, der kleine Rathausangestellte Grand, der kriminelle Selbstmörder Cottard, und die schon Erwähnten: der namenlose alte Asthmatiker, der Hauswart Michel. Frauen kommen, in den ersten beiden Kapiteln jedenfalls, nur in den traditionellen Rollen als Mütter und Gattinnen vor, manchmal in nicht sehr schmeichelhaften Karikaturen. Auch „der Engel der Pest“ scheint ein Mann zu sein. Der mit der roten Lanze gegen die Türen schlägt. Und wer schwingt den sausenden Dreschflegel, den Rieux nachts über der Stadt kreisen hört? Wohl wieder ein Engel, ein Mann. Wahrscheinlich hat Corona in dem Roman herumgelesen und rächt sich jetzt (Corona ist weiblich, oder?).

Wieder gelesen: Albert Camus „Die Pest“ (4)

Wieder gelesen: Albert Camus „Die Pest“ (4)

Ordnungen des Wissens: Wer ist berufen, die Dinge beim Namen zu nennen? Im Falle der Beulen- und Lungenpest Allgemeinmediziner, Bakteriologen, Pulmonologen, dann Theologen, Soziologen… Rieux macht abends seine Hausbesuche: Der alte Asthmatiker sitzt wie immer auf seinem Bett und vertreibt sich die Zeit mit Erbsenzählen. Noch zählt niemand die Toten. Der Leser begegnet einem weiteren Bagatellisierer, weniger Ignorant, mehr amtlicher Leugner: „Immerhin telefonierte Rieux mit dem städtischen Entrattungsdienst, dessen Direktor er kannte. Hatte er schon von den Ratten gehört […]? Direktor Mercier hatte davon reden hören, man hatte sogar in seinen eigenen Diensträumen in der Nähe des Meeres über fünfzig Stück gefunden. Doch fragte er sich, ob das Ganze ernst zu nehmen sei. Rieux wusste es nicht, aber er war dafür, dass der Entrattungsdienst einschreite. ‚Ja‘, sagte Mercier, ‚mit einem schriftlichen Befehl. Wenn du meinst, es sei der Mühe wert, kann ich ver­suchen, einen zu erlangen‘. ‚Es ist schon der Mühe wert‘, sagte Rieux.“ [11]

Ordnungen des Wissens: Wer berufen ist, hat auch einen Ruf zu verlieren. Außer man beginnt zu zäh­len. Dabei kann man nichts falsch machen. Statistiker verstecken sich hinter der scheinbar neutralen Mathematik. Aus den Zahlen können Zweitwohnungsbesitzer Schlüsse ziehen. Aber nicht immer entsteht in der Villa auf dem Lande ein Dekameron. „Die Sache ging so weit, dass die Agentur Ransdoc […] bekannt gab, dass am 25. April allein 6231 Ratten eingesammelt und verbrannt worden waren. Diese Zahl gab dem täglichen Schau-spiel, das die Stadt vor Augen hatte, einen klaren Sinn und vermehrte die Verwirrung. […] Am 28. April gab Ransdoc eine Ausbeute von ungefähr achttausend Ratten bekannt [Warum erst eine exakte, dann eine ungefähre Zahl? fragt Xing], und in der Stadt erreichte die Beklemmung einen Höhepunkt. Man verlangte durchgreifende Maßnahmen, man klagte die Behörden an, und einige, die ein Haus am Meer besaßen, spielten bereits mit dem Gedanken, sich dahin zurückzuziehen.“

Wieder gelesen: Albert Camus „Die Pest“ (3)

Nehmen wir einen der Bagatellisierer. Der Hauswart Michel wird von einem Bewohner des Hauses, dem Arzt Rieux, am 16. April mit einer toten Ratte im Flur konfrontiert:

Nager und Abgenagtes

„Seine Haltung war übrigens eindeutig: es gab keine Ratten im Haus […] sie mussten hereingebracht worden sein. […] Am nächsten Tag […] hielt der Hauswart den Arzt im Vorübergehen an und beklagte sich, Lausbuben hätten drei tote Ratten mitten in den Gang gelegt.” [8-9] Gerade an dem alten Hauswart wird der Verlauf der Erkrankung und das Sterben geschildert. Moralisch gesehen, wäre der Tod die gerechte Strafe für das Leugnen. Aber es geht nicht um Moral. Die Pest rafft Gerechte und Ungerechte dahin. Aus Camus‘ Tagebuch Februar 1942: „Die befreiende Pest. Eine glückliche Stadt. Man lebt nach allerlei Systemen. Die Pest: bringt alle Systeme auf einen Nenner. Aber die Menschen sterben trotzdem. Doppelt sinnlos.“ [179 f.*]

Es geht nicht um Moral, vielmehr um Ordnungen des Wissens. Michels Körper weiß mehr, als sein Intellekt wahrhaben will. Die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks Haltung: „Den Hauswart fand der Arzt neben der Haustür an die Maurer gelehnt. Sein sonst hochrotes Gesicht schien eingefallen. […] Er schien niedergeschlagen und sorgenvoll. Unwillkürlich rieb er sich den Hals. Rieux fragte ihn, wie es ihm gehe. Der Hauswart konn­te nicht sagen, es gehe ausgesprochen schlecht. Nur fühlte er sich nicht wohl. Seiner Meinung kam es von seiner Gemütsverfassung. Diese Rattengeschichte hatte ihn stark mitgenommen, sobald die Tiere verschwunden seien, werde es ihm wieder viel besser gehen.“ [11]

*Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951. Neuausgabe. Aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg : Rowohlt

Wieder gelesen: Albert Camus „Die Pest” (2)

Die Bloggerin Xeniana in Kiel macht sich Sorgen um Plagiate. „Zurück zu Camus. Das Plagiat werde ich kennzeichnen in kursiv. Ich bin kein Fall für Literaturwissenschaftler. Ich bevorzuge auf Grund meines Bildungsniveaus den Bitterfelder Weg. Wem das nicht genügt, der darf gern woanders schauen. In Ordnung Leo Läufer?“ Woher weiß sie etwas über die Diskussion zwischen Leo und Xing? Ich könnte sie fragen. Aber über die Kommentarfunktion auf WordPress kommen wir wegen irgendwelcher Systemeinstellungen nicht zusammen. Einstweilen muss ich den Weg über Zitate und Verlinkungen gehen: https://xeniana.wpcomstaging.com/2020/04/06/ich-lese-die-pest-von-camus-tag-1/

Statt mit Plagiaten hatte ich zunächst ein Problem mit der Umkehrung. Ich wollte es viel schlimmer finden, dass die sogenannte Realität Anleihen bei der Fiktion macht, also die Corona-Krise aus dem Roman „Die Pest” von Camus plagiiert. Hier wie dort schien es das gleiche Personal zu geben, zum Beispiel die simplen Igno­ranten, die offiziellen Leugner, die Attentäter, die Kriegsgewinnler. Und die, die sich auf der sicheren Seite glauben. Aus diesem identifizierenden Lesen hilft nur heraus, dass man anerkennt, dass es sich nicht um eine wirkliche „Pest“ handelt, trotz Ratten, Eiterbeulen und hohem Fieber, sondern um eine Konstruktion. Deshalb lohnt sich ein Blick in die Werkstatt des Schriftstellers: die Tagebücher.

Nähe suchen

In Corona-Zeiten, auf die unmittelbare Umgebung beschränkt und angewiesen, schaust du genauer hin. Die Zahnradbahn ist für vier Wochen stillgelegt, so kannst du näher ran. In Erwartung des Ausflugsverkehrs an Ostern ist sie ab morgen wieder in Betrieb. Aber die Termine wurden noch geplant, als das Virus um Ungarn einen Bogen zu machen schien. Am Bahndamm blüht das Scharbockskraut (Ficaria verna). Schon hörst du die Probebahn heranrumpeln. Schnell noch ein Foto. Der Name des Krauts verweist auf Skorbut. Weltumsegler, aufgepasst! Die Blätter mit hohem Gehalt an Vitamin C, vor der Blüte gepflückt, vertrieben die Wintermüdigkeit und halfen gegen Zahnfleischbluten. Ungarischer Name: Saláta boglárka. Warnhinweis: Hilft nicht gegen das CoViD19-Virus.

Das war’s : Der Nachtzug Berlin – Budapest ist Geschichte

Keleti fények ...

Foto: Németh Tibor (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)%5D, via Wikimedia Commons

Kurz nach acht Uhr morgens kam man an. Nirgendwo konntest du Europa besser kennenlernen, als in diesem Kleine-Welt-Abteil. Zwei dieser Reisen durch Raum und Zeit habe ich hier dokumentiert: die Nacht, als Harry Mulisch starb, und die Nacht des islamistischen Attentats auf das Bataclan in Paris.

Eine unverständliche Konzernpolitik der Deutschen Bahn hat zum Aus des Nachtzugs Berlin – Budapest geführt. Die Streckengebühren wurden für den Betreiber, die ungarischen Staatsbahnen MÁV, erneut erhöht; Verhandlungsangebote zur gemeinsamen Finanzierung ignorierte die DB (Tagesspiegel, 9. Dez. 2017), obwohl sie seit Jahren in der Kritik steht, durch systematisches Jeopardizing der Nachtzüge Low-Budget-Reisende in die Holzklasse der Billigflieger zu drängen.

Am Samstag vor zwei Wochen fuhr der „Metropol“ zum letzten Mal auf der alten Strecke. In Zukunft verbindet er nur noch Budapest mit Prag. Mittelosteuropa koppelt sich ab? Oder wird es abgehängt?

Megjöttek a locsolók – Hier kommen die Sprinkler

Diese Übersetzung bietet Facebook an. Eine Sprinkler-Anlage – das sagt mir etwas. An Orten mit starkem Publikumsverkehr, in Kaufhäusern, Tankstellen, Hotels usw., dient sie dem Brandschutz. Auch mit Berieselungsanlagen, im Online-Wörterbuch für „locsolófej“ angeboten, kann ich was anfangen. Italienisch: „spruzzatore‘. Neulich auf Euro-Sport die Qatar-Rundfahrt, die Spitzengruppe aus fünf sechs Radlern, dann das Peloton fließen an Baumkulissen vorbei, durch Kreisverkehre, in deren Mitte grüne Inseln und Blumenbeete durch Bewässerungsanlagen frisch gehalten werden. Zu den Bildern Dauerberieselung mit Techno im Fitness-Studio. Aber „die Sprinkler“??? Worum geht es? Um einen alten Volksbrauch in Ungarn, aber auch anderswo in Osteuropa, am Ostermontag. Also heute. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte:

Auf dem Lande, in früheren Zeiten, wurde man(n) durchaus handgreiflich, wie zu sehen ist, wenn nicht übergriffig. Städtisch verfeinert, versprühen die Sprinkler heutzutage  Kölnisch Wasser, sagen ihr Sprüchlein auf und werden wie früher mit rot gefärbten Eiern beschenkt, manchmal auch mit Kleingeld. Aber auch „Kölni“ ist bei den jungen Frauen nicht unbedingt beliebt: meistens wird Billigparfüm verpritzt. Trotzdem: ein netter Brauch. Alles ganz harmlos. Und die jungen unbegleiteten Migranten kriegen das ja nicht zu sehen. Die Balkanroute ist dicht.

Super- Taschenmond

taschenmond_colonia

Alle Welt staunt über den Super-Mond, in weiter Ferne, so nah! Alle, die wegen des verhangenen Himmels im November nur virtuell daran teilhaben können, seien auf die Seite der NASA verwiesen: neben viel Kitsch gibt es auch ein atemberaubendes Schwarzweiß-Foto vom Transit der ISS vor unserem Trabanten (APOD: Astronomy picture of the day). Mein Taschenmond ist da bescheidener – nicht auf dem Präsentierteller, sondern in einer Hosentasche oder Bauchfalte des Internets versteckt. Aber hintergründig! Mehr auf der Seite „Taschenmond“ !

Die Teilzeit-Tusse

Flambierte Frauen sind Geschmackssache. Hier ist eine Frau, die nichts anbrennen lässt. Ihr Verlag stellt sie u. a. mit folgenden Angaben vor: „verheiratet, 2 Töchter, arbeitet als Sozialarbeiterin im Sozialpsychiatrischen Dienst, sozialtherapeutische- und musiktherapeutische Zusatzausbildung, Sterbebegleiterin“.

coverleimbachIrene Ullrich-Leimbach hört auch nach ihrer „Zur-Ruhe-Setzung“ nicht auf, sich um Menschen am Rande der Gesellschaft zu kümmern. Bei den Suchtkranken einer mittelgroßen Hafenstadt war sie über Jahrzehnte als konsequente und kompetente Helferin bekannt. Bekannt, gefürchtet und heimlich auch geliebt, hat sie das Zuhören doch nie verlernt. Aber ihre Klienten fanden bei ihr nicht nur Verständnis. Sie wurden immer auch mit der Forderung konfrontiert, in ihrem Problemspeicher oder in ihrem Gefühlshaushalt aufzuräumen. Nach der guten, alten Hausfrauenregel: Überlege nicht lange, wo bloß anfangen? Fang irgendwo an! Zupackend sind auch Irenes Texte in dem jüngst erschienenen Band „Poetische Setzlinge” (Geest Verlag) – die nur entfernt etwas mit ihrem Beruf, viel mehr aber mit ihrer eigenen Existenz als Frau in der Arbeits- und Konsumwelt zu tun haben. Sie sieht sich umgeben von Hedonisten, die das Jammern auf hohem Niveau anstimmen: „Zeit zu klagen / Zeit zu handeln / / Michelangelo trifft sich mit Inge / in der Sixtinischen Kapelle / und wo bleibe ich?” Und sie stemmt sich gegen den Trend zur Frühverrentung: „Wie lange musst du noch, / fragen die Pensionäre, / mitleidig oder irritiert? // Dabei wäre es / viel beruhigender, / für sie, / wenn ich nun auch / Modellbaukästen reanimierte, / verreiste / und mich auf Spieleabende / vorbereitete.” Dieses Gedicht endet mit einem Posaunensolo: „Sie haben völlig recht: / Ich brauche wirkliche Probleme!” Und schon sucht sie im realen Leben nach einem Teilzeitjob, vereinbar mit dem gewöhnungsbedürftigen Rentnerdasein.

Die Probleme werden Irene Ullrich-Leimbach so schnell nicht ausgehen. Deutschland im zweiten Flüchtlingsherbst – da liegen die Themen, die sie in ihrem nächsten Textband anpacken will. Eine gute Medizin gegen das Altern – schon der Barockdichter Friedrich Freiher von Logau wusste das: „Ein Mühlstein und ein Menschenherz wird stets herumgetrieben. / Wo beides nichts zu reiben hat, wird beides selbst zerrieben.“ Derweil reiben wir uns an einem Gedicht aus ihrer ersten Veröffentlichung: „Die Teilzeittusse“ – in diesem Hochgeschwindigkeits-Blog namens „Intercity Wanderjahre“ auf der Seite „Mitreisende“ zu finden.