Aktualisierung 1. November 2022
Der einzige ungarische Literaturnobelpreisträger, der inzwischen verstorbene Imre Kertész, erklärte in einem WELT-Interview zu seinem 80. Geburtstag (DIE WELT 7. November 2009, unter der Überschrift: „Ich schreibe keine Holocaust-Literatur, ich schreibe Romane“), warum er seit geraumer Zeit lieber in Berlin als in Budapest lebte: „Ein Großstädter gehört nicht nach Budapest. Die Stadt ist ja vollkommen balkanisiert. Ein Großstädter gehört nach Berlin!“ Der Gesprächspartner, Tilman Krause, fragte nach dem Faszinosum Berlins und wunderte sich, dass die Stadt an der Donau in den Augen des gebürtigen Budapesters nicht „mithalten“ kann: „Als Sie mir die Stadt vor zehn Jahren gezeigt haben, ging es dort doch auch bunt und fröhlich zu.“ Kertész antwortete: „Das hat sich Ihnen als Tourist so dargestellt. Das war aber nur Fassade. […] Die Lage hat sich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich verschlechtert. Rechtsextreme und Antisemiten haben das Sagen. Die alten Laster der Ungarn, ihre Verlogenheit und ihr Hang zum Verdrängen, gedeihen wie eh und je. Ungarn im Krieg, Ungarn und der Faschismus, Ungarn und der Sozialismus: Nichts wird aufgearbeitet, alles wird zugeschminkt mit Schönfärberei.“ In den letzten Jahren vor seinem Tod war Kertész allerdings in seine Budapester Wohnung zurückgekeht, die er aus Krankheitsgründen kaum noch verlassen konnte.
Die Reaktionen der beiden damals führenden ungarischen Tageszeitungen waren bezeichnend für das bis heute herrschende Klima der innenpolitischen Auseinandersetzung . Die inzwischen eingestellte NÉPSZABADSÁG, allgemein dem linken Spektrum zugerechnet, referierte am 9. November 2009 auf der Kulturseite (S. 10) die oben zitierten Passagen und weitere zur ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts, ohne selbst Stellung zu beziehen. Der Artikel folgt einer Eloge auf den Jubilar von Ferenc Takács, die ungefähr doppelt so lang und überschrieben war: „Antisemiten beherrschen den öffentlichen Diskurs.“ Die konservative, damals oppositionelle, aber unabhängige MAGYAR NEMZET, die inzwischen zu einem Sprachrohr der Fidesz-Regierung geworden ist, machte am gleichen Tage mit der Schlagzeile auf: „Nobelpreiswürdige Verunglimpfung der Nation“ und zitierte im Einleitungstext die Bemerkung von Imre Kertész zur „Balkanisierung“ Budapests und die angebliche Behauptung „die Rechtsextremen und Antisemiten regieren“. Im Körpertext liefert das Blatt ein Kabinettstückchen politisch heiklen Jonglierens mit Bedeutungen: „Er fügte hinzu: In den vergangenen zehn Jahren […] bestimmen die extreme Rechte und die Antisemiten, was zu geschehen hat. (Die Übersetzung der letztgenannten Äußerung verursachte in der Nachrichtenagentur MTI einige kleinere Störungen. Der Satz lautet im deutschen Originalwortlaut so: [deutsch zitiert] `Rechtsextreme und Antisemiten haben das Sagen`[Ende des deutschen Zitats]. MTI übersetzte dies zunächst so: `Die Rechtsextremen und Antisemiten regieren`, später korrigierte sich die Nachrichtenagentur dahingehend: `Rechtsextreme und Antisemiten geben zunehmend den Ton an.` Es gibt im Ungarischen keine wörtliche Entsprechung zu der deutschen Redensart, aber im alltäglichen Gebrauch ist ihre Bedeutung klar. (Sie bezieht sich auf die Person, die Gruppe oder das Faktum, welche oder welches das entscheidende Wort spricht – die Redaktion.) Der Schriftsteller verschwendete nicht viele Worte daran, dass seit 2002 eine linksliberale Regierung das Land beherrscht, die Hauptstadt aber bald zwei Jahrzehnte von dem SZDSZ-ler Gábor Demszky gelenkt wird [SZDSZ – Bund der Freien Demokraten].“
Leider hatte Tilman Krause im WELT-Interview nicht nachgehakt, was Imre Kertész mit „Balkanisierung“ meinte. Die Selbstverständlichkeit, mit der er den Begriff entgegennahm, war und ist gerade heute angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine das Problem. Krause fasste ihn vermutlich so auf, wie er im geopolitischen („westlichen“) Diskurs seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, spätestens seit dem Zerfallsprozess Jugoslawiens, gebraucht wurde: als Synonym für einen failed state, z. B. als Zersplitterung eines Vielvölkerstaates in einander feindlich gesinnte Kleinstaaten, ja sogar als Verfallserscheinung des öffentlichen Bewusstseins von „Richtig“ und „Falsch“ (der juristisch so genannten „guten Sitten“ [WIKIPEDIA]) bis hin zur Fragmentarisierung des Internets als angebliche Microsoft-Strategie [HEISE ONLINE] und zur Auflösung der Finanzmärkte in nationale Egoismen als Folge der globalen Finanzkrise [DER STANDARD].
Im ungarischen Sprachgebrauch erscheint der „Balkan“ meist als Gegensatz zu Europa, den Inbegriff für zivilisierte, bürgerliche Verhältnisse. „An den Balkan knüpfen sich Vorstellungen von Rückständigkeit, Desorganisation, Dreck, wilder, hinterhältiger Gewalt und Korruption. Daher ist es wohl eine noch größere Beleidigung, wenn man Ungarn dem Balkan hinzuzählt, als wenn man es als osteuropäisches Land bezeichnet.“ [István Bart: Ungarn. Land und Leute. Ein kleines Konverationslexikon der ungarischen Alltagskultur. Budapest: Corvina 1999. dt. 2000, S. 19 f.] Aber das ist nicht nur ein ungarisches, es ist ein europäisches Thema. In einem als Kulturraum vorgestellten „Mitteleuropa“ ging es immer um die Grenzziehung zu Osteuropa. Diese Grenze, da nur im jeweiligen Kopf vorhanden, ist durchaus verschiebbar. Für den Fürsten Metternich begann der Balkan schon hinter dem Landstrasser Tor von Wien.
Slavenka Drakulic stellt mit Rastko Mocnik, dem slowenischen Soziologen, fest: „Balkan – das sind die anderen!“ Dies sei auch der tiefere Grund dafür, dass in Westeuropa viele Menschen achselzuckend von sich behaupten, sie verstünden die ethnischen Konflikte auf dem Balkan nicht. Nicht Faulheit gegenüber dem Informationsangebot, nicht Gefühllosigkeit gegenüber den Bildern weinender Frauen und geöffneter Massengräber seien der Grund: „Wenn die Europäer sagen würden, sie verstünden die angsteinflößenden Ereignisse, würde das bedeuten, wir wären gleich oder zumindest ähnlich. Es ist natürlich viel sicherer, diese Möglichkeit von sich zu weisen und an der Notwendigkeit der Distanz zu jenen Nachbarn festzuhalten (sich immer daran erinnernd, dass der Balkan das ist, was Europa nicht ist). Als wäre Europa ein von der Berührung des Teufels verschontes Terrain… Als wären die europäischen Nationalstaaten oder Revolutionen nicht aus Blut geboren… Als hätte es Auschwitz nie gegeben… Ja schon, aber – könnte jemand einwenden – das alles passierte nicht unter unseren Augen! Kein Blut, keine Messer, keine Metzelei, keine sichtbare Brutalität. Die Bilder von ausgemergelten Körpern? Sie sind zwar nicht vergessen, aber in die tiefsten Schichten des Gedächtnisses gedrängt worden, um Platz zu schaffen für neue Horrorbilder aus Bagdad oder Abu Graib. Letztlich kann man Grausamkeiten nur begrenzt aufnehmen; es muss ein Schreckenspensum geben, nach dessen Überschreitung Gewalt nichts mehr bedeutet.“ [SZ 5. Mai 2008]
Mein am Ende des Jahres 2009 formuliertes idealistisches Fazit lautete: „Es ist an Ungarn, an Deutschland wie an jedem anderen europäischen Land, den Blick auf den „eigenen Balkan“ zu richten und beharrlich an einer europäischen Zivilgesellschaft zu arbeiten, das heißt darauf zu vertrauen, dass auch Gesellschaften lernen können.“ Inzwischen denke ich, dass die Analyse tiefer ansetzen müsste. Selbst in diesem Fazit verbirgt sich eine Arroganz, die sich bei allen so genannten europäischen „Kulturvölkern“ seit dem 19. Jahrhundert mit der zwiespältigen Sicht auf den Orient ausgeprägt hat (Edward Said). Und diese Sicht scheint immer noch eine imperiale Perspektive zu sein – wie Brodskys Gedicht auf die Unabhängigkeit der Ukraine (1992) zeigt, sind selbst liberal denkende Dissidenten nicht frei von solcher Art Dünkel (Zaal Andronikashvili in der FAZ vom 21. Oktober 2022).