Walter Benjamin schreibt in seinem Essay „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“: „Erstmals in der Geschichte der Architektur tritt mit dem Eisen ein künstlicher Baustoff auf. […] Sie enthält den entscheidenden Anstoß, als sich herausstellt, daß die Lokomotive […] nur auf eisernen Schienen verwendbar ist. Die Schiene wird der erste montierbare Eisenteil, die Vorgängerin des Trägers. Man vermeidet das Eisen bei Wohnbauten und verwendet es bei Passagen, Ausstellungshallen, Bahnhöfen – Bauten, die transitorischen Zwecken dienen. “ [W.B. Illuminationen. Frankfurt/M. 1961, 186]
Das Büro Eiffel baut nicht nur 1887 bis 1889 den Turm in Paris, der nach der Weltausstellung eigentlich nur 20 Jahre stehen und dann wieder abgebaut werden sollte, es baut auch 1874 bis 1877 den Westbahnhof in Budapest (Auguste de Serres). Der Ostbahnhof (1884, von Gyula Rochwitz und János Feketeházi) zitiert in der Fassade den Pariser Triumphbogen, die Öffnung allerdings durch eine Verglasung geschlossen. Links und rechts vom Hauptportal sind James Watt und George Stephenson als Statuen verwewigt.
Transition, Übergang, Ankunft und Trennung. Die Bahnhöfe sind die Kathedralen des Reisens. Die Offenheit der Konstruktion lässt die Winde des Mittelmeeres und des Atlantiks hindurchwehen – oder die von der Hohen Tatra und aus der Puszta: Das ist die Stunde des Glases als konstruktivem Element, Transparenz und Windschatten in einem sichernd.
Die Saint-Chapelle, der vollkommenste Bau der Hochgotik, war ein vergrößertes Reliquiar, das in seinem Innern, von filigranen Steinbögen und farbigen, bleigefassten Glasfenstern mehr umwoben als eingeschlossen , die Überreste der Marterwerkzeuge Christi barg, das Vergängliche als Zeichen des Ewigen, des Ziels. Das himmlische Jerusalem war inmitten von Paris angekommen. Der Bahnhof des XIX. und des folgenden Jahrhunderts birgt nichts, sondern setzt aus; hier kommt man nur an, um Anschluss zu bekommen; für den, der kurz verweilt, entfalten die parallelen Schienenstränge einen Sog des Unsteten, der Ziellosigkeit, ins Unendliche. Da, wohin es mich zieht, bin ich nicht, aber wo ich bin, möchte ich nicht sein. Riesengroße Zifferblätter zeigen durchaus funktional die Uhrzeit an, feiern aber auch stumm und rituell die Vergänglichkeit. Die Namen der Bahnhöfe sind vom Standort in der Stadt bzw. von den Zielorten abgeleitet, wie St. Lazáre in Paris oder der Hamburger Bahnhof in Berlin. In Budapest versprechen die Namen ebenfalls Orientierung, verwirren aber eher den Unkundigen. West- und Ostbahnhof liegen eher am nördlichen Rand der Pester Innenstadt, der Südbahnhof liegt in Buda und deshalb eher im Westen.
Vergänglichkeit, Orientierungslosigkeit. Dieses bittersüße Gefühl überhöht die Bourgeoisie in der Bahnhofskathedrale und schmiegt sich zugleich ins samtige Interieur der privaten Wohnung: Das Futteral, mit dem Panzer nach außen und der wie angegossenen Hohlform nach innen, für die Brille etwa oder das Opernglas, wird für Benjamin zur Allegorie der Angst der Bourgeoisie, ihrem Eingeklemmtsein zwischen Adel und Proletariat. Ein Jahrhundert später sammeln sich die Fremdarbeiter in den schnörkellosen Zweckbauten des 20. Jahrhunderts, die Großgaragen oder Fabrikhallen gleichen. Im Film „Palermo oder Wolfsburg“ von Werner Schroeter (1980) inszenieren die Gastarbeiter aus Sizilien, ausschließlich Männer, die im Volkswagenwerk schuften, Abend für Abend ihre Zusammenkünfte im Bahnhof der Autostadt, der nun gar nicht mehr anmutet wie eine Kathedrale, sondern wie eine Piazza mit mediterraner Aura.
Die Gestaltungsformen haben sich im 19. Jahrhundert von der Kunst emanzipiert, sagt Benjamin, wie die Wissenschaften im 16. Jahrhundert von der Philosophie : „Den Anfang macht die Architektur als Ingenieurskonstruktion. Es folgt die Naturwiedergabe der Photographie. Die Phantasieschöpfung bereitet sich vor, als Werbegraphik praktisch zu werden. Die Dichtung unterwirft sich im Feuilleton der Montage. Alle diese Produkte sind im Begriff, sich als Ware auf den Markt zu begeben. Aber sie zögern noch auf der Schwelle. Dieser Epoche entstammen die Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen. Sie sind Rückstände einer Traumwelt. Die Verwertung der Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf ihr Erwachen hin.“ (W.B. Illuminationen, 200)
Der Gare d’Orsay hatte schon 40 Jahre nach seiner Eröffnung (1900) ausgedient, weil die von elektrischen Lokomotiven gezogenen Züge viel zu lang waren. Seit 1986 nimmt die gewaltige Halle, die lange Zeit leer stand, die in Paris gesammelte bildende Kunst des 19. Jahrhunderts auf. „Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie als Ruinen zu erkennen, noch ehe sie zerfallen sind.“ (Benjamin)
Unvergesslich die leeren Fensterhöhlen des riesigen, unbrauchbar gewordenen Bahnhofsgebäudes in der Autostadt Detroit, das wir bei unserer hastigen Stadtrundfahrt mit Rus umrundeten. Und erstaunlich die Menschenleere des neuen Hauptbahnhofs in Berlin-Mitte.
Harper’s Magazine 30. Juni 2014: The Near-Death of Grand Central Terminal
Siehe auch hier im Intercity Wanderjahre:
Nachtzug Berlin – Budapest 13. November 2015
In der Nacht, als Harry Mulisch starb (von Wien Westbahnhof nach Hamburg Altona)
So viel Kluges über Bahnhöfe habe ich lange nicht gelesen. Ich empfehle „Winterbergs letzte Reise“ von Rudis. Eine Irrfahrt durch die Bahnhöfe der untergegangenen KuK-Monarchie.
Und übrigens: Der Berliner Hauptbahnhof menschenleer? Ich empfehle einen Besuch.
Danke – auch für den Lektürehinweis. Die Menschenleere habe ich nach einer spätabendlichen Fahrt mit der „Kanzler-U-Bahn“ vom Brandenburger Tor zum Hauptbahnhof deliriert.