Ein Konzertabend mit einem durchaus nicht russophoben Programm. Vor der Pause: Rachmaninov: Piano concerto No.3 in D minor, Op. 30, featuring: Mao Fujita – piano. Nach der Pause: Stravinsky: Funeral Song, Op. 5. und Prokofiev: Symphony No.7 C-sharp minor, Op. 131.
Igor Stravinskijs instrumentale Totenklage, ein weithin unbekanntes Stück, ging mir unter die Haut. Das fortwährende Grummeln der Kontrabässe und Pauken schien den Kanonendonner bei Bachmut und Mariopol zu intonieren, die Aufschreie der Violinen, das gequälte Getön der Holz- und das erstickte Schmettern der Blechbläser rief das Massaker an ukrainischen Zivilpersonen durch die russische Invasionsarmee bei Butscha auf den Plan. Natürlich war es so nicht intendiert und inszeniert. Es handelt sich nur um meine durch keinen musikalischen Sachverstand getrübte Rezeption. Ich weiß nicht, ob außer mir auch andere Zuhörer im schönsten Konzertsaal Budapests, der den Namen Béla Bartóks trägt und sich des Hochwert-Attributs »national« rühmen darf, genau diese Assoziationen hatten.
Laut dem Programmheft hatte Igor Stravinskij das Klagelied zum Tode seines Mentors Nikolaj Rimskij-Korsakov komponiert. Es wurde aus diesem Anlass am 17. Januar 1909 ein einziges Mal aufgeführt und seitdem über 100 Jahre lang nicht gespielt. Die Partitur galt als verschollen. 2015 entdeckte ein Bibliothekar im St. Petersburger Konservatorium unter nicht katalogisiertem Material einen Klavierauszug, der von Experten für echt befunden und von anderen – nach Absprache mit den Rechteinhabern – neu instrumentiert wurde.
»A tízperces, lassú tempojú darabon széles ívű, hideglelős nyugalmú, többnyire 6/4-es metrumú, eneklő dallam vonul végig, ezt szakadozott és töredezett zenei gesztusok tagolják és kommentálják. A mű hangulata mindvégig sejtelmes és nyomasztó, keresztény gyásztartás helyett inkább pogány mesevilágot vagy mitoszt idéz – nyilványvaló reflexióként Rimszkij-Korszakov vonzalmára a keleties kolorit iránt.« (Kristóf Csengery im Programmheft des Palastes der Künste. www.mupa.hu).
»Durch das 10-minütige, in langsamen Tempo gespielte Stück zieht sich in weitem Bogen eine ruhige, aber frösteln machende Melodie, meist im 6/4-Takt, artikuliert und kommentiert durch zerrissene und fragmentierte musikalische Gesten. Das Werk versetzt den Hörer durchweg in eine geheimnisvoll-depressive Stimmung; statt an christliche Trauerriten erinnert es eher an heidnische Märchen oder Mythen – offensichtlich Rimskij-Korsakovs Neigung zu orientalischem Kolorit reflektierend.« (Übersetzung: Xing, unter Zuhilfenahme der Plattform https://www.translator.eu/magyar/).
Laut Csengery wurzelt das Werk in der (musikalischen) Vergangenheit und weist in die Zukunft:
„Az erősen kromatikus fogalmazásmód egyszerre utal Wagnerre (leginkább Az istenek alkónya atmosférája jut eszünkbe), más elemekkel magára Rimszkij-Korszakovra, bizonyos színekkel a francia impresszionizmusra – és egyértelműen előlegezi a majdani érett Stravinskyt: a nehány évvel későbbi Tűzmadár stílusát, színeit és hangvételét.«
„Die stark chromatische Phrasierung verweist zugleich auf Wagner (am ehesten kommt uns die Atmosphäre der Götterdämmerung in den Sinn), mit anderen Elementen auf Rimsky-Korsakov selbst, mit bestimmten Klangfarben an den französischen Impressionismus – und die Komposition nimmt eindeutig den reifen Stravinskij der Zukunft vorweg: den Stil, die Farben und den Ton des Feuervogels einige Jahre später [1910].«
Mit anderen Worten: Das emblematische Werk der Musik des frühen 20. Jahrhunderts – russische Traditionen im Pariser Ambiente – ruft die Vorstellung von einem Europa herauf, das nicht an den Ostgrenzen des Baltikums, Polens und der Ukraine endet. Kann man sich vorstellen, dass die musikalische Rekonstruktion der 2015 wieder aufgefundenen Komposition, unmittelbar nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim durch den Aggressor Putin [2014], ohne Hintergedanken an propagandistische Effekte gefördert wurde? Also doch: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein.« (Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, VII). Benjamin fährt fort: »Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.«
Louviers? Holzwickede? Was dieser Porzellanteller mit meiner jüngsten Romanlektüre zu tun hat? Das erfahren Leser:innen in dieser Rezension:
Mary Ann Shaffer/ Annie Barrows, „Deine Juliet“
Mir gefällt der Originaltitel besser: The Guernsey Literary and Potato Peel Pie Society. In der Übersetzung des Clubnamens geht die Alliteration PPP und durch die Genitivkette ein wenig die Poesie verloren: Club der Guernseyer Freunde von Literatur und Kartoffelschalenauflauf. Die paradoxe Zusammenstellung von literarischem Anspruch und dem Rezept aus Küchenabfällen bleibt dennoch erhalten. Ansonsten ist die Übersetzung durch Margarete Längsfeld und Martina Tichy angenehm leicht. Das Unvereinbare, das der britische Humor miteinander versöhnt, blitzt auch im Text immer wieder hervor. Das Schwere wird nicht verschwiegen, aber der Leser darf immer wieder einmal erleichtert auflachen. Er darf es nicht nur, er muss es sogar, angesichts der witzigen Einfälle der Autorinnen.
Die Handlung spielt im Frühjahr 1946 auf der Kanalinsel Guernsey, die – im Besitz der Krone, aber nie Teil des Königsreichs – während des Krieges von der Deutschen Wehrmacht besetzt war. Schon wieder eine Inselgeschichte – doch durch die Form des Briefromans in vielen Narrationen, die in Rückblenden den Anschluss an die Geschichte der Besatzungsjahre suchen. Die persönlichen Perspektiven ergeben ein buntes Kaleidoskop der Inselbewohner. Die Besatzer erhalten mit ausgefeilter Bürokratie eine Zwangsbewirtschaftung aller landwirtschaftlichen Produkte aufrecht, um diese der Versorgung ihrer Armee in Nordfrankreich zuzuführen. Der literarische Club wird bei einer Razzia aus der Not des Augenblicks geboren. Oder aus der Taufe gehoben, um ein illegales Abendmahl zu tarnen, bei dem ein dem Zugriff der Deutschen entzogenes Schwein verspeist wird. Um die Tarnung aufrecht zu erhalten, müssen die literarischen Abende wiederholt werden. Das stellt die lektüre-ungewohnten Clubmitglieder vor Aufgaben, die starke Kontraste zu ihrer Alltagstätigkeit hervorrufen.
Napoleons Geschichtsschreiber Thiers sagt, indem er seinen Helden zu rechtfertigen sucht, daß Napoleon gegen seinen Willen zu den Mauern Moskaus hingelockt worden sei […]. Er hat ebenso recht wie alle jene Historiker, die geschichtliche Ereignisse aus dem Willen eines einzelnen Menschen zu erklären versuchen, ebenso recht wie jene russischen Geschichtsschreiber, die da behaupten, Napoleon sei durch die Kunst russischer Feldherren nach Moskau gelockt worden. Hier spielen außer dem Gesetz des nachträglichen Hineindeutens auch noch die Wechselbeziehungen mit hinein, die alles noch mehr verwirren. Ein guter Schachspieler ist, wenn er eine Partie verloren hat, fest überzeugt, daß dieser Verlust durch einen Fehler seinerseits verursacht ist, und sucht diesen Fehler am Anfang seines Spiels. Aber er denkt nicht daran, daß im Verlauf des ganzen Spiels bei jedem Zug solche Fehler gemacht worden sind, und daß auch nicht ein einziger Zug ganz fehlerfrei gewesen ist. Und gerade der Fehler, auf den er seine Aufmerksamkeit lenkt, fällt ihm nur deshalb auf, weil der Gegner Vorteil daraus gezogen hat. Um wieviel verwickelter aber ist nun das Spiel eines Krieges, das unter gewissen zeitlichen Bedingungen abrollt und wo nicht ein einziger Wille leblose Marionetten lenkt, sondern alles, was sich ereignet, dem Zusammenfluß zahlreicher, mannigfaltiger Willkürlichkeiten entspricht.
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Zehnter Teil, Kapitel 7. München (Winkler) 1956, Seiten 972-973.
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: Die Luft einzuziehn, sich ihrer entladen; Jenes bedrängt, dieses erfrischt; So wunderbar ist das Leben gemischt. Du danke Gott, wenn er dich preßt, Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.
Kurz vor dem Einschlafen wieder Tolstoi. Der Beginn des Neunten Teils von „Krieg und Frieden“. Am 12. Juni 1812 wurde die rote Linie überschritten, die zweite Grande Armée unter Napoleon drang nach Russland ein. Leo Tolstoi hebt die Unmöglichkeit hervor, die Gründe für das Handeln der Akteure zu erkennen, egal ob auf der Makro- oder der Mikro-Ebene. Weil es Millionen und Abermillionen von Gründen gebe. Das epische Panorama – in der deutschen Übersetzung 1.598 Seiten – bringt der Autor hier auf die Kurzformel vom Fatalismus in der Geschichte.
Für uns Nachfahren, die wir keine Historiker sind, die wir uns durch den Forschertrieb nicht hinreißen lassen und deshalb die Ereignisse mit ungetrübten, gesunden Sinnen überschauen, stellen sich die Gründe für diesen Krieg in ungezählten Mengen dar. […] Solche Gründe, wie die Weigerung Napoleons, seine Truppen hinter die Weichsel zurückzuziehen oder das Herzogtum Oldenburg wieder herauszugeben, erscheinen uns wie der Wunsch oder die Weigerung des ersten besten französischen Korporals, zum zweiten Mal wieder in den Militärdienst einzutreten, denn wenn er nicht den Wunsch gehabt hätte, wieder einzutreten, und ein zweiter, ein dritter, ein tausendster Korporal oder Soldat seinem Beispiel gefolgt wäre, so hätte Napoleons Armee um soviel weniger Mannschaften gehabt, und der Krieg wäre unmöglich gewesen.
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Neunter Teil, Kapitel 1. München (Winkler) 1956, Seiten 825-826.
Dann vor dem Aufwachen ein Traum. Dunkel, vom Hafen her erhellt. Eine ältere (alte?) Frau steigt mit kräftigen Schritten die Treppe zur Stadt hinan. Sie schleppt zwei große, prall gefüllte Tragetaschen, obwohl es dunkel ist, meine ich zu erkennen, dass diese aus kariertem Kunststoff bestehen. Die Schritte der Frau auf der Treppe hallen durch das Dunkel, sie trägt Schuhe mit harten (breiten, hohen) Absätzen. Oder sind es Stiefel? Früher hätte ich gesagt: „Mütterchen Russland“. Sie geht die Treppe, she walks her line. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, wird ein Kinderwagen die Stufen herunter ticken. Die steinernen Löwen werden sich erheben und ein Gebrüll anstimmen. Von oben wird die zaristische Soldateska im Kordon, schießend und die Gewehre immer wieder ladend, in die Menge schießend, die Treppe säubern.
Der Tiger springt ins Vergangene, der Film läuft rückwärts. Den Engel der Geschichte weht es von uns weg. Er entfernt sich, bleibt uns aber zugewandt. „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ (Walter Benjamin)
Die Schachtel mit den Filterzigaretten der Marke „Kosmos“ stammt aus dem Nachlass meines Vaters. Er, von der Familie „Jupp“ genannt, wäre gestern einhundert Jahre alt geworden. Jahrgang 1922. Der im 2. Weltkrieg am stärksten dezimiert wurde (jedenfalls was die Angehörigen der Deutschen Wehrmacht angeht). 1940, mit 18 Jahren, meldete „Jupp“ sich freiwillig zur Kriegsmarine. Das hatte ihm sein Vater geraten, also mein Großvater, der im Ersten Weltkrieg ebenfalls bei der Kriegsmarine gewesen war. „Stolz weht die Flagge Schwarz-Weiß-Rot“.
Soll er wirklich mein Mann werden, ausgerechnet dieser fremde, schöne, gute, junge Mensch? Ja gut ist er, dachte Prinzessin Marja, und eine Angst, die sie niemals empfunden hatte, kam über sie . Sie fürchtete sich, sich umzuschauen: ihr war, als stünde dort jemand hinter dem Schirm in der dunklen Ecke. Und dieser Jemand war der Teufel oder er – der junge Mann mit der weißen Stirn, den schwarzen Augenbrauen und dem roten Mund.
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Dritter Teil, Kapitel 5. München (Winkler) 1956, Seite 301.
Die Familie war katholisch, der Großvater ein Anhänger der Zentrumspartei. Er war Schreiner von Beruf, in der Wirtschaftskrise arbeitslos, aber nicht anfällig für Hitlers Propaganda. Obwohl der Volksschullehrer den Jungen für das Gymnasium empfohlen hatte, bestimmte der Erziehungsberechtigte ihn für eine Lehre als Maschinenschlosser. Dort, im Reichsbahnausbesserungswerk Schwerte, galt mein Vater als der „kleinste Stift“. Als Lehrling stand er sonntags in dem Zwiespalt, zum Dienst bei der Hitlerjugend oder in die katholische Messe zu gehen, wo er als Messdiener am Altar assistierte. Nachdem er sich mehrmals für den Gottesdienst entschieden hatte, wurde er von den Hitlerjugendführern vor versammelter Mannschaft gemaßregelt: Ihm wurden die Schulterstücke vom Uniformhemd gerissen. So konnte er sich ausrechnen, dass die Nazis im Heimatort ihn auf dem Kieker hatten. Mit der freiwilligen Meldung zur Marine konnte „Jupp“ sich deren Einfluss entziehen.
Er kam zur Marineschule in Kiel-Laboe. Angeblich war er sehr sportlich (Mittelstreckenläufer, Salto über den Tisch). Aber schwimmen konnte er nicht. Den Widerspruch erklärt er weg: „Wir Nichtschwimmer waren in der Marine beliebt. Weil wir immer Schwimmwesten getragen haben.“ Mein Vater ist mit seinen Söhnen niemals zum Schwimmen gegangen, weder in das Wellenbad in der Ruhr noch in das Freibad mit dem verrückten Namen „Schöne Flöte“. Von Beruf Maschinenschlossergeselle, war er für eine Mechanikerausbildung vorgesehen. Sein Rang war Marinegefreiter. Die Aufgabe, die er schließlich an Bord übernahm, war die des Sperrmixers. Den Begriff habe ich nirgendwo gefunden. Ich erkläre ihn mir aus der dem Zusammenhang mit den Minensperren. Die wurden ja gelegt, um feindlichen Schiffen die Durchfahrt durch eine Meerenge oder die Annäherung an wichtige Hafeneinfahrten zu versperren. Es gab nur einen „Sperrmixer“ auf dem Minenleger, einem Prahm. Der Prahm hatte kaum Stauraum unter Deck, sondern transportierte die Last offen an Deck. Die Minen standen in zwei Reihen auf je einer Schiene back- und steuerbords, auf denen sie nach achtern, zum Heck, geschoben wurden. Also ein ziemlich schwerfälliges Schiff ohne großen Tiefgang. Seeschlachten konnte man damit nicht gewinnen. Zur Selbstverteidigung hatten sie ein kleines Flugabwehrgeschütz, vielleicht noch ein Maschinengewehr. Mein Vater hat erzählt, dass er einen Luftangriff verschlafen hat. Obwohl er direkt hinter dem feuernden Geschütz lag, sei er nicht wachgeworden. Einmal hatten sie einen Frachter gekapert. Kisten voller Hühnereier. Tagelang Rührei, danach Hard boiled eggs, dann Sole-Eier. Eierschlachten, die Mannschaft bewarf sich damit. Das sind so Anekdoten, die man glauben kann oder auch nicht. Außerdem hatten sie Wasserbomben gegen feindliche U-Boote.
„Der Sperrmixer“. Foto aus dem Nachlass meines Vaters. Als Kinder dachten wir, er selbst wäre darauf abgebildet. Wahrscheinlich ein Kriegspresse-Foto. Nr. 26 aus einer Serie.
Der Sperrmixer machte die Minen scharf, bevor sie ins Meer geworfen wurden. Dazu musste er vorsichtig die Zünder einschrauben und die Sensoren spannen, so stelle ich es mir vor, die auf die Berührung mit einer Schiffswand die Explosion der Mine auslösten. Ein ziemlich gefährlicher Job, der hohe Präzision erforderte, damit die Mine wirklich auch explodieren würde. Aber nicht vor der Zeit, nicht an Deck. Nach dem Scharfmachen wurde die Mine ans Heck geschoben und von dort aus ins Wasser geworfen. Der Befehl lautete „Mine, Wurf!“ Die Mine hatte eine schwere Basis, die sich auf den Meeresgrund legte. Von der Basis aus löste sich der an einem längeren oder kürzeren Drahtseil befestigte Minenkopf mit dem Explosionsstoff und den Zündern. Wegen des Auftriebs konnten die Minen in verschiedenen Höhen unter Wasser schweben. Keine Fachexpertise, meine Phantasien.
Das Einsatzgebiet war der Finnische Meerbusen, also der östliche Arm der Ostsee („Baltic Sea“) Richtung Leningrad (heute Sankt Petersburg). Die Minensperren sollten sowjetische Kriegsschiffe und U-Boote daran hindern, aus dem Finnischen Meerbusen auszulaufen. Ob die Blockade auch der Belagerung von Leningrad durch die Deutsche Wehrmacht dienen sollte, kann ich nicht sagen. Die Blockade Leningrads ist eine der längsten Belagerungen in der Geschichte des 2. Weltkriegs. Hungersnot, eisige Winter, die meisten Bäume in den Parkanlagen gefällt, Schostakowitsch, ein Symphonie-Orchester mit klammen Fingern. Das Schiff legte zur Versorgung mit Treibstoff, Verpflegung und zur Bestückung mit neuen Minen in vielen Ostseehäfen an. Ich kann mich daran erinnern, dass „Jupp“ die Städte Danzig (heute Gdansk in Polen), Libau (Liepaja in Lettland) und Reval erwähnte (Tallin, die Hauptstadt Estlands), und natürlich Turku und Helsinki. Finnland unter Marschall Mannerheim war mit Hitlerdeutschland verbündet und führte in Karelien einen Landkrieg gegen die Sowjetunion.
Der Fürst lachte wieder in seiner kalten Art. »Bonaparte ist ein Glücksmensch«, sagte er. »Er hat prächtige Soldaten und ist zuerst über die Deutschen hergefallen. Nur ein ganz schlapper Kerl kann die Deutschen nicht besiegen. Seit die Welt steht, sind die Deutschen von ihren Feinden stets besiegt worden. Sie haben nie ihre Gegner geschlagen. Das haben sie nur untereinander fertig gebracht. Bei ihnen hat er sich seine Lorbeeren geholt.«
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Vollständige Ausgabe. Aus dem Russischen übertragen von Marianne Kegel. Erster Teil, Kapitel 27. München (Winkler) 1956, Seite 131.
Mein Vater war das, was man einen „guten Soldaten“ nannte. Er wurde mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und mit der finnischen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Auf diesen Orden war er stolz, weil den nicht viele bekommen hatten. Die Urkunde mit der Unterschrift Marschall Mannerheims hing in dem Zimmer meines Vaters, eingerahmt an der Wand, zusammen mit dem Orden. Noch früher hing dort eine Kopie eines Seestücks „Der letzte Mann“ und ein Finnendolch. Ich habe Urkunde und Orden im vorigen Jahr dem ungarischen Historiker Krisztián Ungváry geschenkt, der ein Standardwerk über die Schlacht von Budapest geschrieben hat („Budapest ostroma“ 7. Auflage 2016; seit 1998 vier Ausgaben in deutscher Sprache, je zwei in den USA und UK erschienen, eine illegale russische).
Aber so ein guter Soldat war mein Vater auch wieder nicht. Von einem Nachtausgang in einer finnischen Hafenstadt, ich glaube Turku, kehrte er zu spät auf das Schiff zurück. Der „Alte“, also der Kommandeur der Flotille, auch „Kaleu“ (Kapitänleutnant) genannt, stellte ihn zur Rede. Wegen des Disziplinarvergehens nahm er das Kommando zurück, mit dem er meinen Vater eigentlich hatte belohnen wollen. Er hätte zur Schnellbootflotte im Schwarzen Meer versetzt werden sollen, wegen des schönen Wetters und der sagenhaft schönen Halbinsel Krim ein Traumziel. Die Strafe war ein Glück für meinen Vater. Die gesamte Schnellbootflotte im Schwarzen Meer ist vom Gegner, sowjetischen Schiffen, U-Booten und vor allem Flugzeugen, vernichtet worden. Kaum jemand von den deutschen Besatzungen hat das überlebt. Ohne „Jupps“ Verstoß gegen die Regeln wären mein Bruder und ich nicht auf der Welt.
In den letzten Kriegstagen ist mein Vater an der Ostseeküste desertiert. Noch ein Regelverstoß, der vielleicht mir und meinem Bruder ans Licht der Welt verholfen hat. Er hat sich zu Fuß von Mecklenburg-Vorpommern bis in den Heimatort am Rand des Ruhrgebiets durchgeschlagen. Eines Morgens hat er sich an einem Brunnen gewaschen und dabei seine Erkennungsmarke an einem Zaun hängen gelassen. Er wurde von einer Feldpolizeistreife aufgegriffen und konnte seine Erkennungsmarke nicht zeigen, hatte aber sein Soldbuch dabei. Er wurde in eine Kaserne gebracht, wo letzte Aufgebote des sogenannten „Volkssturms“ (alte Männer und 14-, 15jährige Jungen) zusammengestellt wurden. Der befehlshabende Offizier ließ meinen Vater einsperren, aber ein Feldwebel verhalf ihm zur Flucht, indem er ein Fenster auf der Toilette öffnete. („Das ist ein ganz scharfer Hund, der will dir nichts Gutes, hau ab.“). Auf dem weiteren Weg musste mein Vater die Elbe und die Weser überqueren. An der Weser kontrollierten alliierte Truppen, genauer englische Soldaten, alle Boote, die über den Fluss setzten. „Jupp“ wollte nicht in Kriegsgefangenschaft. Er nahm zwei Melkeimer in die Hand und setze mit anderen Melkern und Melkerinnen zu den Kühen am anderen Ufer über. Ende Mai 1945 war er zurück in der Heimat.
„Jupp“ hatte zeitlebens Sympathien für russische Komponisten und russische Dichter. Kopien von Ikonen, Bernsteinschmuck für meine Mutter. Die Tolstoi-Ausgabe stammt aus seinem Nachlass, aber auch ein apokryphes Werk von Karl Marx über die russische Geheimdiplomatie, von Dostojewskij nur „Die Dämonen“, Quellenbände über die Oktoberrevolution, Solschenitzyns „Archipel Gulag“ natürlich. Im Jahre 1976 erfüllte er sich einen großen Wunsch. Mit unserer Mutter und seinen beiden Söhnen reiste er nach Moskau und Leningrad. Unbekümmert fotografierte er nicht nur Bahnhöfe und den Panzerkreuzer „Aurora“, sondern auch moderne sowjetische Kriegsschiffe auf der Newa. Gorbatschow war dann sein Held.
Ein „Chick Corea“ – Abend im Palast der Künste (MŰPA) war angekündigt, mit einem tollen Porträt von Chick, das so lebendig wirkte, als ob er gleich aus den Seiten des Programmhefts herausspringen wollte:
Chick im Programmheft nach einem Foto von Toshi Sakurai
Sogar eine Premiere war angekündigt, das eigens für den Ort komponierte „Concert for Trio“. Wir hatten keinen Hinweis darauf, dass Chick Corea im vergangenen Februar ziemlich plötzlich an einer seltenen Krebserkrankung gestorben ist. Da wir uns nun nicht ständig in den Charts bewegen und eher ein komplentatives Verhältnis zur Musikszene pflegen, war uns das entgangen. Entspechend enttäuscht waren wir zunächst, völlig zu unrecht, weil wir die Programmhinweise im Internet nicht richtig gelesen hatten (man sollte wirklich manchmal eine „Webpage“ nach unten „scrollen“). Da steht alles korrekt aufgeschrieben. Danach hätte Chick Corea im November 2021 zum vierten Mal live auf dem Podium des Bartók Béla Konzertsaals gestanden.
Der Abend wurden von Chick Coreas Bassisten John Patitucci gestaltet, und auch sein Schlagzeuger Dave Weckl war auf dem Podium. Patitucci verlas nach der Pause einen warmherzigen Brief der Witwe an die Budapester Fans. Die beiden älteren Herren hatten sich mit drei fantastischen jungen Pianisten umgeben, mit Dániel Szabó (USA-HU), dem in Georgien geborenen Beka Gochiashvili und dem Israeli Gadi Lehavi, alle bereits mit Chick Corea aufgetreten oder gar Schüler von ihm. Sie beschworen seinen „Spirit“ mit einer Spielfreude und Fingerfertigkeit , dass wir uns voll entschädigt fühlten. Das dreistündige Konzert gipfelte in einem Auftritt, zu dem noch zwei Keyboards auf die Bühne geschoben wurden, so dass alle drei mit den beiden Sekundärheroen zu einem tollen „Jam“ verschmolzen.
Pierre nach seinem Auftritt im Hause Anna Pawlownas, bei dem er Bonaparte fast schon wie Heinrich Heine als Hüter der Revolution und berittenen Weltgeist verteidigt hatte, nun im Gespräch unter vier Augen. Seinem Freund, Fürst Andrej, antwortet er auf die Frage, ob er sich schon bei der Gardekavallerie gemeldet habe: „Wir haben jetzt Krieg gegen Napoleon. Wenn das ein Kampf für die Freiheit wäre, dann könnte ich es verstehen und träte als erster in den Kriegsdienst. Aber England und Österreich gegen den größten Menschen auf der Welt zu helfen… nein, das ist nicht schön.“ Fürst Andrej, befremdet ob dieser Naivität: „‚Wenn alle Menschen nur nach ihrer Überzeugung kämpften, dann gäbe es keinen Krieg‘, sagte er. ‚Das wäre ja gerade sehr schön‘, entgegnete Pierre. Fürst Andrej lächelte. ‚Schon möglich, daß es schön wäre, aber das wird nie geschehen.‘ ‚Na, warum gehen Sie denn in den Krieg?‘ fragte Pierre. ‚Weswegen? Man muß eben. Außerdem gehe ich…‘ Er hielt inne. ‚Ich gehe deshalb, weil das Leben, das ich hier führe, weil dieses Leben – mir nicht paßt.'“
Leo N. Tolstoi, Krieg und Frieden. Erster Teil, Kapitel 6. Übersetzung Marianne Kegel. München 1956.
Budapest, XII. Bezirk. Ukrainische Botschaft. Ganz rechts der Konsulateingang mit der Schlange der Wartenden.
Gestern Mittag vor der Ukrainischen Botschaft in Budapest. Hier haben wir am Sonntag vor einer Woche Blumen niedergelegt und eine Kerze angezündet. Da waren noch keine Geflüchteten vor der Botschaft. Ich versuche es mit Englisch und Deutsch. Gespräch mit einer jungen Familie. Er Engländer, hat Frau und Kind herausgeholt. Sie wollen die Papiere in Ordnung bringen und dann mit dem Flieger nach London. Wissen sie von jemandem, der oder die weiter nach Deutschland will? Ja, da war jemand im Zug, aber… Die Aufmerksamkeit ist nicht auf dieses Gespräch gerichtet. Die Frau wartet gespannt darauf, dass die nächste Gruppe von zehn Menschen hereingerufen wird. Der Mann kümmert sich um das Kind. Sie sind bei Záhony nach Ungarn über die Grenze gegangen, weil die Übergange nach Polen hoffnungslos verstopft schienen. Der junge Mann ist voller Lobes für die Hilfsbereitschaft der Ungarn. Sie haben im Zelt übernachtet und wurden gut versorgt. Fahrten mit der Ungarischen Staatsbahn sind kostenlos. Will sonst niemand nach Deutschland? Ich treffe sonst keinen mit Deutsch- oder Englischkenntnissen, geschweige denn Ungarischsprechende. Klar, die wollen nicht weiter. Eine junge Frau kann Französisch, aber das kann ich nicht. Alle haben einen Plan und sind gestresst. Ich bin da eher lästig.