Ein Konzertabend mit einem durchaus nicht russophoben Programm. Vor der Pause: Rachmaninov: Piano concerto No.3 in D minor, Op. 30, featuring: Mao Fujita – piano. Nach der Pause: Stravinsky: Funeral Song, Op. 5. und Prokofiev: Symphony No.7 C-sharp minor, Op. 131.
Igor Stravinskijs instrumentale Totenklage, ein weithin unbekanntes Stück, ging mir unter die Haut. Das fortwährende Grummeln der Kontrabässe und Pauken schien den Kanonendonner bei Bachmut und Mariopol zu intonieren, die Aufschreie der Violinen, das gequälte Getön der Holz- und das erstickte Schmettern der Blechbläser rief das Massaker an ukrainischen Zivilpersonen durch die russische Invasionsarmee bei Butscha auf den Plan. Natürlich war es so nicht intendiert und inszeniert. Es handelt sich nur um meine durch keinen musikalischen Sachverstand getrübte Rezeption. Ich weiß nicht, ob außer mir auch andere Zuhörer im schönsten Konzertsaal Budapests, der den Namen Béla Bartóks trägt und sich des Hochwert-Attributs »national« rühmen darf, genau diese Assoziationen hatten.
Laut dem Programmheft hatte Igor Stravinskij das Klagelied zum Tode seines Mentors Nikolaj Rimskij-Korsakov komponiert. Es wurde aus diesem Anlass am 17. Januar 1909 ein einziges Mal aufgeführt und seitdem über 100 Jahre lang nicht gespielt. Die Partitur galt als verschollen. 2015 entdeckte ein Bibliothekar im St. Petersburger Konservatorium unter nicht katalogisiertem Material einen Klavierauszug, der von Experten für echt befunden und von anderen – nach Absprache mit den Rechteinhabern – neu instrumentiert wurde.
»A tízperces, lassú tempojú darabon széles ívű, hideglelős nyugalmú, többnyire 6/4-es metrumú, eneklő dallam vonul végig, ezt szakadozott és töredezett zenei gesztusok tagolják és kommentálják. A mű hangulata mindvégig sejtelmes és nyomasztó, keresztény gyásztartás helyett inkább pogány mesevilágot vagy mitoszt idéz – nyilványvaló reflexióként Rimszkij-Korszakov vonzalmára a keleties kolorit iránt.« (Kristóf Csengery im Programmheft des Palastes der Künste. www.mupa.hu).
»Durch das 10-minütige, in langsamen Tempo gespielte Stück zieht sich in weitem Bogen eine ruhige, aber frösteln machende Melodie, meist im 6/4-Takt, artikuliert und kommentiert durch zerrissene und fragmentierte musikalische Gesten. Das Werk versetzt den Hörer durchweg in eine geheimnisvoll-depressive Stimmung; statt an christliche Trauerriten erinnert es eher an heidnische Märchen oder Mythen – offensichtlich Rimskij-Korsakovs Neigung zu orientalischem Kolorit reflektierend.« (Übersetzung: Xing, unter Zuhilfenahme der Plattform https://www.translator.eu/magyar/).
Laut Csengery wurzelt das Werk in der (musikalischen) Vergangenheit und weist in die Zukunft:
„Az erősen kromatikus fogalmazásmód egyszerre utal Wagnerre (leginkább Az istenek alkónya atmosférája jut eszünkbe), más elemekkel magára Rimszkij-Korszakovra, bizonyos színekkel a francia impresszionizmusra – és egyértelműen előlegezi a majdani érett Stravinskyt: a nehány évvel későbbi Tűzmadár stílusát, színeit és hangvételét.«
„Die stark chromatische Phrasierung verweist zugleich auf Wagner (am ehesten kommt uns die Atmosphäre der Götterdämmerung in den Sinn), mit anderen Elementen auf Rimsky-Korsakov selbst, mit bestimmten Klangfarben an den französischen Impressionismus – und die Komposition nimmt eindeutig den reifen Stravinskij der Zukunft vorweg: den Stil, die Farben und den Ton des Feuervogels einige Jahre später [1910].«
Mit anderen Worten: Das emblematische Werk der Musik des frühen 20. Jahrhunderts – russische Traditionen im Pariser Ambiente – ruft die Vorstellung von einem Europa herauf, das nicht an den Ostgrenzen des Baltikums, Polens und der Ukraine endet. Kann man sich vorstellen, dass die musikalische Rekonstruktion der 2015 wieder aufgefundenen Komposition, unmittelbar nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim durch den Aggressor Putin [2014], ohne Hintergedanken an propagandistische Effekte gefördert wurde? Also doch: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein.« (Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, VII). Benjamin fährt fort: »Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.«