„Eine bewährte Art, eine Stadt kennenzulernen, besteht darin, herauszufinden, wie ihre Bewohner arbeiten, wie sie lieben und wie sie sterben. In unserem Städtchen vermengt sich dies alles und geschieht mit der gleichen Maßlosigkeit , doch ohne innere Anteilnahme.“
Albert Camus, Die Pest. Einzige vom Verfasser autorisierte Übertragung von Guido C. Meister. Reinbek bei Hamburg 1950: Rowohlt (rororo 15), S. 5
Dem Roman ist ein Zitat von Daniel Defoe vorangestellt. Darin wird das Verhältnis von Fiktion und Realität beleuchtet. Camus stellt damit die philosophische Frage, ob überhaupt „etwas“ die grundsätzlich absurde Existenz des Menschen transzendieren kann. Wie Robinson sich seine Insel immer komfortabler einrichtet und von nichts anderem träumt, als sie zu verlassen, so sehnen die Einwohner von Oran, der wegen der Pest abgeriegelten Hafenstadt am Mittelmeer, das Ende der Quarantäne herbei, um in ihre eingefahrenen Gewohnheiten des Arbeitens, Liebens und Sterbens zurückzukehren. Das ist jetzt erst einmal eine Deutungshypothese. Vielleicht werde ich durch die erneute Lektüre des Romans ja eines Anderen belehrt. Oder die Zeit nach Corona bewahrheitet die Prophezeiungen, dass von jetzt an alles anders wird. Das Defoe-Zitat lautet:
Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt.
Ich habe zwar Philosophie studiert, bin aber, was den Versuch betrifft, die Dinge pragmatisch zu sehen, stur wie ein Esel. Also sage ich zu Robinson: Mach weiter so, richte Dich schön ein. Und träume von der Heimkehr. Das ist doch ganz natürlich. Und was Camus angeht und die Pest: Was ist dagegen einzuwenden, dass die Menschen sich danach sehnen, wieder einen ganz normalen Alltag zu erleben?
Dieter, sag es mir! Vielleicht hält Du mich nun nicht nur für stur, sondern für blöd.
Natürlich, Hermann, hast Du recht. Es liegt mir fern, mit meinen Bemerkungen die Bedürfnisse von uns allen zensieren zu wollen. Auch ich verkürze mir gerne die Zeit und verlängere hoffentlich mein Leben mit einem Glas guten ungarischen Rotweins. Es wäre schön, wenn wir beide noch einmal dazu kämen, in Deiner oder meiner Hütte damit anzustoßen. Dein Beitrag hilft mir, meine Absichten zu klären. Ich wollte ein Lesetagebuch beginnen, nichts weiter. Ich möchte Camus’ Werk „Die Pest” nicht als Dystopie lesen, also so, dass ich die dort ausgebreiteten Fiktionen mit den Fakten der Corona-Krise vergleiche. Es geht Camus, wie ich glaube, um mehr als um menschliche Einstellungen und Haltungen zu einer Pandemie und den staatlichen Maßnahmen, mit denen sie beantwortet wird. Es geht ihm nicht um Moral, sondern um ein komplexes Denkbild (eine Allegorie) des Absurden. Das Defoe-Zitat hat mich in diese Leserichtung gewiesen. Obwohl die Heimkehr Robinson Crusoes aus der Isolation nach England nur den Wechsel von einem Gefängnis in ein anderes darstellt, ist es richtig, die Insel zu verlassen. So ist es auch richtig gewesen, durch seine Arbeit seine Gefangenenexistenz auf der Insel zu sichern und einigermaßen komfortabel zu gestalten, bis sich die Gelegenheit dazu bot, sie gegen das Leben in gesellschaftlichen Konventionen einzutauschen. Man muss sich Sysiphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.