George Orwells „1984“ jährt sich zum dreißigsten Mal

Mitte der  Sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts sahen wir die Verfilmung von „1984“ im katholischen Jugendheim. Ich weiß noch, wie ich dachte: Noch zwanzig Jahre. Es war der Schwarzweißfilm (GB 1956), den Michael Anderson mit Edmond O’Brien in der Rolle des Winston Smith drehte. Altersgerechte Rezeption: Konzentration auf die Action und auf die Liebesbeziehung Winstons und Julias, an sich schon ein Akt der Rebellion gegen das System des Großen Bruders, dann auf die Rattenfolter und auf den gegenseitigen Verrat der Liebenden und ihrer Überzeugungen. Ich denke, den alternativen Schluss, in dem die Beiden bei ihrem letzten Aufbegehren im Kugelhagel der Polizei ihr Leben aushauchen, habe ich erst später im westdeutschen Fernsehen gesehen. Meine Erinnerung will es, dass mir der „umgedrehte“ Winston, der in einer Massendemonstration dem Großen Bruder zujubelt, eindrücklicher vor Augen steht. Der Sieg des totalitären Einparteienstaats über das ohnmächtige Individuum – das war die Quintessenz des 20. Jahrhunderts. Es brauchte dann noch zwanzig Jahre, bis ich den Roman selbst las – es gehörte der Medienhype dazu, die Flut von Sekundärliteratur und natürlich die getreuere Neuverfilmung (UK 1984) von Michael Radfort mit John Hurt als Winston und Richard Burton als seinem Gegenspieler O’Brien.

Den Roman hatte ich im Gepäck, als ich 1984 über Ostern nach Ungarn fuhr und unter widrigen Umständen – die nichts mit dieser Konterbande zu tun hatten – eine Zwangsverlängerung meines Urlaubs hinnehmen musste. Jetzt hatte ich die Zeit, mich mit den abstrakten und philosophischen Inhalten von „Neusprech“ und der Neuschreibung der Historie  im Wahrheitsministerium zu beschäftigen. Und so brachte ich den Roman, der selbstverständlich wie in der UdSSR und der DDR als „antikommunistisches Machwerk“ auch in der Volksrepublik Ungarn verboten war, unter die Leute. Der Autor selbst hatte sich in seinen letzten Lebenstagen, denen er den Roman buchstäblich abgerungen hat, gegen allzu platte Lesarten gewehrt. Weder zeitgenössische  Stalinkritik noch zukunftsbanges Menetekel waren direkt seine Absicht. Parallel zur Arbeit an dem Roman setzte er sich öffentlich mit den Schriften Sartres auseinander – allgemein ging es ihm wohl auch im Roman darum, die Anfälligkeit von Intellektuellen für totalitäres Denken zu brandmarken. Und heute? Orwell hatte nicht das Internet gekannt, und selbst uns, den Lesern und Kinozuschauern von „1984“, war es noch kein Begriff. Was kann uns dann aber der Roman heute noch sagen? Gibt es in der Facebook-Generation überhaupt noch einen Begriff von Privatheit, von dem aus die Abhörpraktiken und die Datensammelwut der Geheimdienste als Skandal empfunden werden? Entspricht dem realen permanenten Kriegszustand überhaupt noch ein menschliches Gefühl, das nicht als Paranoia oder Endzeit-Zynismus daherkommt? Immunisiert die Kulturindustrie nicht gegen das Stellen richtiger Fragen, lässt sie überhaupt noch so etwas wie ein historisches Bewusstsein aufkommen? Greift umgekehrt die Lesart,  das gegenwärtige Ungarn unter Viktor Orbán gleiche mehr und mehr der Orwellschen Dystopie, nicht geschmäcklerisch viel zu kurz? Gleichwohl lesenswert – die Zusammenfassung des Essays von András Bruck in englischer Sprache.

4 Kommentare zu “George Orwells „1984“ jährt sich zum dreißigsten Mal

  1. Ich will nicht darüber abstimmen, ob Orwell uns noch was zu sagen hat, lieber selbst etwas zur Situation in Ungarn beitragen: Ein historisches Institut, das im Auftrag der Regierung von einem Nichthistoriker geleitet wird und den Namen „Veritas“ erhält, erinnert in seinen Verlautbarungen doch stark an das Wahrheitsministerium in „1984“. Und auch die Maßnahmen zur Korrektur der Geschichte gehen in die Richtung, gemeint sind hier das Beharren darauf, die staatliche Souveränität Ungarns sei zwischen dem 19. März 1944, d. h. zwischen der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht und den ersten freien Wahlen im Mai 1990 außer Kraft gesetzt worden. Dies hat zum Ziel, Ungarn in eine Opferrolle zu kleiden und die Mittäterschaft z. B. beim Holocaust als eine erzwungene hinzustellen. Siehe die Präambel im Grundgesetz, die Umgestaltung des Kossuth-Platzes vor dem Parlamentsgebäude und das geplante Besatzungsdenkmal auf dem Freiheitsplatz.

  2. Na, wenn wir schon dabei sind, zur Beantwortung der Ausgangsfrage („Orwell – so’n Bart“?) weitere Gewährsleute heranzuziehen, möchte ich doch auf Essay Byung-Chul Han im SPIEGEL 2/2014 aufmerksam machen:

    „Legendär ist der Werbespot von Apple, der 1984 während des Super Bowl über den Bildschirm flackerte. In ihm inszeniert sich Apple als Befreier gegen Orwells Überwachungsstaat. Im Gleichschritt betreten willenlos und apathisch wirkende Arbeiter eine große Halle und lauschen der fanatischen Rede des großen Bruders auf dem Teleschirm. Da stürmt eine Läuferin in die Halle, verfolgt von der Gedankenpolizei. Sie läuft unbeirrt nach vorn, vor ihrem wogenden Busen trägt sie einen großen Vorschlaghammer. Entschlossen rennt sie auf den Großen Bruder zu und schleudert den Hammer mit voller Wucht in den Teleschirm, der daraufhin lichterloh explodiert. Die Menschen erwachen aus ihrer Apathie. Eine Stimme verkündet: ‚On January 24th, Apple Computer will introduce Macintosh. And you’ll see why 1984 w’ont be >1984<'."

    Quelle: Byung-Chul Han: Im digitalen Panoptikum. Wir fühlen uns frei. Aber wir sind es nicht. SPIEGEL 2/2014, S.106 f.

  3. Orwells „1984“ ist sicher nach wie vor hochaktuell … zumal in Ungarn (worauf Icaruso oben dankenswerter Weise hingewiesen hat) … jedoch nicht unbedingt wegen solch technischer Aspekte, wie sie duch Edward Snowden auf die Tagesordnung gebracht wurden und die im Artikel oben unter den Stichworten „Facebook, Datensammelwut, Abhörpraktiken“ angerissen wurden: Was wir im heutigen Orbanisierten Ungarn – und seit dem 31.12.2013, der „Ausschreibung“ für das Schuldübertragungsdenkmal, mehr denn je – sehen, ist, wie weit unter perfider Ausnutzung aller Manipulationstechniken (vor allem der ständigen Wiederholung von Lügen, dem permanenten Bezug auf und Appelle an „magyarische“ Gefühle und unverdaute Residuen nationaler Selbstsuche, der Bedeutungsumformung von Begriffen und Worten – zum „Neusprech“ siehe Wilhelm Droste in der NZZ – , dem gleichzeitigen geplanten „Zwiesprech“ verschiedener Mandatare vor verschiedenem Pulbikum und der permanenten Umschreibung der Geschichte ein komplettes Volk in seiner Mehrheit zu Parteigängern gemacht – oder bestenfalls zu amorpher Masse degradiert werden. Die Kontrollmechanismen wie in „1984“ braucht es dafür gar nicht erst, und sie würden auch nicht funktionieren, dafür sind die Möglichkeiten des oben angesprochenen Macintoshs doch zu omnipräsent. Nein, Orbán hat Ungarn in toto in ein so umfassendes „Stockholm-Syndrom“ hineingeführt, daß man dafür eines Tages vielleicht sogar den Begriff „Ungarn-Syndrom“ oder besser „Orbán-Sydrom“ verwenden wird. Das hat binnen weniger als vier Jahren dazu geführt, daß wann immer Worte wie „magyar“ oder „nemzet“ fallen, jede Kritik nicht nur verstummt, sondern wie bei einem Pawlow´schen Reflex in den Hirnen unterdrückt wird und sich so auf diesen Begriffen die größten Schweinereien zur eigenen Bereicherung und zu der der bereitwillig helfenden Kapos im Nullkommanix widerstandslos durchziehen lassen! Eine solche Totalität der Manipulation ohne physische Zwangs- und Überwachungsmittel, ein solch bereitswilliges Mitmachen der Funktionshäftlinge, das hat Orwell nicht auf dem Schirm gehabt … kein Wunder, er karrikierte damals existente Systeme in Deutschland und der UdSSR, die vordergründig viel mehr auf externen Zwängen aufgebaut waren (wobei auch dort bei genauerem Hinsehen auf die vielen „Mitläufer“ ähnliches schon hätte aufscheinen können — aber wer weiß, was Orwell noch aus dem Buch gemacht hätte, wäre es ihm vergönnt gewesen, weiter daran zu feilen).
    Einen Aspekt lohnt es sich aber noch genauer zu betrachten: die oben richtig aufgezeigte Parallele zwischen dem Orbán´schen Veritas-Institut und dem Orwell´schen Wahrheitsministerium! Was jetzt und heute in Ungarn durch die Orbán´schen Parteigänger versucht wird, ist tatsächlich eine Umdeutung der Geschichte, eine Umwertung aller Werte, eine nationale Geschichtsklitterung mit dem Ziel, an diesem „Wendepunkt in der Geschichte der freien Ungarn” (Lazár) eine Festschreibung des „moralischen und nationalen Konsenses“ (Balog) vorzunehmen, eine Festschreibung, die nolens volens Viktor Orbán als das Endziel des von den „Magyaren“ seit der Christianisierung stringent verfolgten höheren nationalen Strebens erstrahlen lassen soll! Diese Geschichtsumdeutung, die mitnichten sich nur auf den aktuell diskutierten Aspekt des Antisemitismus bezieht (siehe dazu die ständig weitergeführte Dokumentation unter http://kurzlink.de/jCHmRryvv), ist reinste Eschatologie, eine fast kultische Lehre von den „letzten magyarischen Dingen“. Was unter Árpád vage begonnen, unter Stephan I. fundamentiert, unter Kossuth versucht wurde, zu erneuern … unter Orbán soll es seinen Abschluss finden! Das aber geht weiter über den „Großen Bruder“ hinaus.

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